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Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich

Titel: Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
Autoren: James Barclay
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hörte Hesther Gelächter aufbranden. Immerhin war jemand auf die Idee gekommen, den Wartenden einen Zeitvertreib zu bieten.
    Von der Rückseite des Oratoriums aus betrat sie das Forum und stieg die wenigen Stufen zum Podium hinauf. Die Läden und Stände, die den gepflasterten Platz umgaben, waren verlassen. Die polierten Säulen, die gekalkten Wänden und die rot gedeckten Dächer strahlten in der Sonne. Die Menschen verstummten, kaum dass Hesther erschienen war. Die jungen Akrobaten und Jongleure verschwanden rasch in der Menge.
    Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen, strich ihr einfaches ärmelloses blaues Kleid glatt und rückte die Gürtelschnalle zurecht. Dann ordnete sie ihre langen brünetten Locken und blickte zu den Stadtbewohnern hinab, die den ganzen Tag auf die Neuigkeiten gewartet hatten. Jetzt spürte sie das Gewicht ihrer fünfundsechzig Jahre und die Erwartungen, die auf ihr lasteten, ebenso wie die Hoffnung, ihnen allen möge endlich ein Erfolg beschieden sein.
    Alle hier wollten weiterleben wie bisher, ohne den Druck, irgendetwas verändern zu müssen. Doch was sie zu verkünden hatte, war der Vorbote eines sehr grundlegenden Wandels. In allen Gesichtern sah sie die Erwartung. Bei denen, die keiner Linie angehörten, erkannte sie auch Erregung und Naivität. Die Menschen sehnten sich nach den Neuigkeiten, die sie überbrachte, und hatten keine Ahnung, wie sehr ihr Leben sich verändern würde, wenn die Neugeborenen die in sie gesetzten Hoffnungen erfüllten.
    Schuldgefühle hatte sie keine, vielmehr war sie begeistert, weil die Mienen der Einwohner zum Ausdruck brachten, dass sie unerschütterlich zum Aufstieg stehen würden. Die Stille war unerträglich, sie musste endlich sprechen.
    »Meine Freunde, sie sind geboren und wohlauf.«
    Das Freudengebrüll hätte sie fast von den Beinen geworfen.
     
    Ardol Kessian stemmte die Ellenbogen auf den Tisch und stützte das Kinn auf die Hände. Unbehaglich grunzend rutschte er auf der harten Bank hin und her. Eigentlich hätte ihm doch längst jemand ein Kissen holen sollen. Inzwischen war es Nacht, der ganze Himmel bis zum Horizont von Sternen übersät. Die Luft war klar und immer noch warm. In den nächsten sieben Tagen würde es keinen Regen geben, auch wenn in zwei Tagen vereinzelte Wolken die Luft etwas abkühlen würden.
    Vor ihm drängten sich die Menschen auf dem Forum, ihre Gesichter leuchteten hell im Schein des Feuers und der Laternen. Die Kapelle, die auf dem Oratorium spielte, brachte die müden Tänzer noch einmal mit einem bekannten Stück in Schwung. Handtrommeln und Kesselpauken bestimmten den Rhythmus, Lyren und Flöten lieferten die Melodien, eine kräftige Stimme leitete die Tänzer an.
    Es war lange her, dass er es gewagt hatte, sich zum Tanz mitten auf das Forum zu wagen. Er hatte das vermisst. Die Lebenskraft und die Freude, die Nähe der Frauen, ihr Duft, wenn sie sich drehten. Ihre Blicke, die auf ihm ruhten, während sie tanzten und sprangen.
    Jetzt gab er sich damit zufrieden, die jüngeren Generationen dabei zu beobachten, wie sie all die Fehler wiederholten, die auch er in der Jugend begangen hatte. Ja, es war lange her. Er blickte nach rechts und nahm Gennas Hand.
    »Weißt du noch, wie wir uns beim Tanzen kennen gelernt haben?«
    »Ja, Ardol«, erwiderte Genna ergeben. »Das fragst du mich jedes Mal, wenn wir Leute tanzen sehen.«
    »Wirklich?« Kessian lächelte. »Das vergesse ich immer wieder.«
    »Weil es dir so passt.«
    Er drückte Gennas Hand. Er würde zuerst gehen. Genna war dreißig Jahre jünger als er. In den letzten achtzig Jahren hatten sie zusammen das Land bestellt. Er fragte sich, wie sie ohne ihn zurechtkäme. Wahrscheinlich wäre sie froh, endlich Frieden und Ruhe zu finden.
    »Jen hat ihre Sache heute gut gemacht«, sagte er, um in einer festlichen Nacht wie dieser nicht vollends in Melancholie zu versinken.
    »Ja, das hat sie«, stimmte Genna zu.
    Die Gerüche von gebratenem Fisch und Holzrauch, schmorendem Fleisch und der Hefegeruch von verschüttetem Bier wehten herüber. Jen hatte Seebarsch und Sardinen gefunden, die Netze waren prallvoll gewesen, und wenn die Katerstimmung am nächsten Morgen verflogen waren, würde es auf dem Markt viel zu kaufen geben.
    »Ich hoffe, ich störe nicht?«
    Kessian schaute auf. Vor dem Tisch stand Arvan Vasselis, der Marschallverteidiger von Caraduk. Er war am Nachmittag mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn eingetroffen, nachdem er fünf Tage zuvor die
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