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Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich

Titel: Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
Autoren: James Barclay
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Angehörige der Linie und für ihre Fähigkeiten als Amme geachtet wurde, sie war doch keine von ihnen und blieb ausgeschlossen von dem Ruf des Aufstiegs, den die anderen so selbstverständlich in sich vernahmen.
    Die Tür der Kinderstation ging auf, Hesther Naravny trat ein und schloss die Tür hinter sich. Die Landhüterin der fünften Linie war eine leidenschaftliche, temperamentvolle Frau von Mitte sechzig. Hesther wandte sich an die Aufgestiegenen, und ihr Gesicht verfinsterte sich.
    »Meera, was hast du hier zu suchen? Auch du, Gwythen. Ihr solltet das Bett hüten.«
    »Die Autorität hat sich versammelt, um die Neugeborenen zu segnen«, erwiderte Meera. »Vielleicht sollte ich eher fragen, warum du nicht hier warst?«
    »Immer das quengelige Kind«, murmelte Hesther. »Muss ich denn auf dich aufpassen, bis du alt und grau bist, Meera?«
    »Ich habe dir schon tausendmal gesagt, dass du nicht meine Mutter bist.«
    Etwas freundlicher gestimmt, trat Hesther nahe an Meera heran und nahm deren Gesicht in beide Hände. »Nein, aber ich bin deine Schwester, und ich liebe dich mehr als jedes andere Geschöpf unter Gottes Himmel. Du bist eine Mutter der neunten Linie, und wir alle beten, dass diese Linie uns den Einen schenken möge, der uns zum Aufstieg führt. Ich kann nicht dulden, dass du dich selbst in Gefahr bringst. Bitte, Meera, du hast eine schwere Geburt hinter dir. Du musst dich schonen.«
    Meera lenkte ein und nickte. »Ich weiß. Aber es ist so … sieh dir nur mein schönes Kind an.«
    Hesthers Miene hellte sich auf. »Ich bin eine stolze Tante und Schwester, noch bevor ich Angehörige der Autorität bin. Du hast einen wunderschönen Sohn, der für uns alle sehr wichtig ist. Aber jetzt komm. Gwythen, du auch. Helft einander ins Bett.«
    Die Autoritäten machten ihnen Platz, Willem hielt ihnen die Tür auf.
    »Gott segne euch«, sagte er. »Schlaft gut.«
    »Nun denn«, fuhr Hesther fort, als die Tür wieder geschlossen war. »Ardol, das Forum ist seit dem Morgengrauen brechend voll. Sie üben sich in Geduld, aber es ist doch gewiss an der Zeit, ihnen die Neuigkeiten mitzuteilen.«
    Kessian nickte. »Wir wollen sie nicht länger auf die Folter spannen. Es gibt noch viel zu tun.«
    »In der Tat«, stimmte Hesther zu. »Shela, wie geht es den Kindern?«
    »Sie schlafen friedlich, aber etwas Ruhe könnte ihnen nicht schaden.«
    Hesther zwinkerte ihr zu und ging zur Tür. »Ich spreche zu den Einwohnern der Stadt. Ihr anderen, hinaus mit euch.«
     
    Direkt hinter der Kinderstation begann die mit Marmorfliesen ausgelegte Kolonnade, die den Innenhof und den Garten vor der Villa der Aufgestiegenen umgab. Hesther lief eilig zwischen den Säulen hindurch und trat ins Sonnenlicht hinaus, das die Steinplatten unter ihren Sandalen wärmte und das Wasser der vier Springbrunnen funkeln ließ. All die Düfte und Farben der Blumen, Gräser und kleinen Bäumen zeugten vom aufkeimenden Leben. Hesther atmete tief ein.
    In der Kinderstation ruhten nun die kühnsten Hoffnungen des Aufstiegs. Mit einer geradezu kindlichen Erregung trottete sie durch den schönen Garten und durch die lange Vorhalle, durch den kühlen Empfangssaal und schließlich auf die Straßen von Westfallen hinaus.
    Der Ort lag am Ende einer von hohen Klippen umgebenen Bucht, die sich hundert Meilen im Süden zur Weite des Ozeans hin öffnete. Eine halbe Meile jenseits der Hafenmauern ergossen sich die spektakulären Genastrofälle über tausend Fuß tief ins Meer. Sie bildeten den Abfluss des Weidensees, der zwei Meilen östlich der Stadt lag.
    Die Villa stand auf einem Hügel oberhalb der Stadt und überblickte die prächtige goldene Bucht und den aus Stein und Beton erbauten Hafen. Die sanften Hänge ringsum wurden von größeren Wohnsitzen und dem zugehörigen Ackerland eingenommen. Das Korn reifte auf den Feldern, die Tiere grasten oder dösten an diesem beschaulichen Tag in der Sonne. Unten, in der Nähe des Forums, drängten sich an den Pflasterstraßen und Plätzen dicht an dicht niedrige Wohnhäuser und Gebäude mit ebenerdigen Geschäften.
    Die Stadt war wie verlassen. Sämtliche Fischerboote lagen hoch auf dem Strand, unter den träge flatternden Markisen der Läden rührte sich nichts. Alle waren auf dem Forum. Hesther hörte bereits das Summen der Stimmen und hatte die vor dem Oratorium versammelte Menge längst bemerkt. Hunderte Menschen warteten dort auf Neuigkeiten. Während sie so schnell lief, wie sie konnte, ohne außer Atem zu geraten,
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