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Die Kälte Des Feuers

Die Kälte Des Feuers

Titel: Die Kälte Des Feuers
Autoren: Dean R. Koontz
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Flügel. Schließlich hob sie den Kopf, öffnete die Augen und sah, daß die Vögel in einer weiten Spirale zum bleifarbenen Himmel aufstiegen, wo ein weiterer dunkler Schwärm wartete - zweihundert, vielleicht noch mehr.
    Sie richtete den Blick auf Henry Ironheart. Blut tropfte aus mehreren tiefen Kratzern in den Händen des alten Marines. Während des Angriffs hatte er sich im Rollstuhl zusammengekauert, und nun beugte er sich wieder vor, streckte die gesunde linke Hand aus und rief den Namen seines Enkels.
    Holly sah in Jims Augen. Er saß nach wie vor auf der Bank vor ihr, aber gleichzeitig weilte er an einem anderen, fernen Ort. Höchstwahrscheinlich befand er sich in der Mühle, war in jene stürmische Nacht zurückgekehrt und beobachtete seine Großmutter unmittelbar vor ihrem fatalen Sturz, eingefroren in der Zeit, unfähig dazu, den Erinnerungsfilm um ein Bild weiterzudrehen.
    Die Vögel kamen zum drittenmal.
    Sie waren noch weit entfernt, dicht unter den Wolken, aber der Schwärm hatte inzwischen eine solche Größe erreicht, daß die rhythmisch schlagenden Flügel wie das Grollen eines Gewitters klangen. Das Kreischen kam den Stimmen der Verdammten gleich.
    »Jim, du hast die Möglichkeit, den gleichen Pfad zu beschreiten, für den sich Larry Kakonis entschied. Wenn du Selbstmord begehen willst, kann ich dich nicht daran hindern. Aber wenn der Feind es nicht mehr auf mich abgesehen hat, wenn es ihm nur noch darum geht, dich zu töten - glaub nur nicht, daß ich dadurch mit dem Leben davonkomme. Wenn du stirbst, so bedeutet das auch meinen Tod. Dann werde ich Larry Kakonis’ Beispiel folgen und mich umbringen. Wenn es im Diesseits keine Zukunft für uns gibt, werde ich zusammen mit dir in der Hölle schmoren!«
    Der Feind fiel in Form zahlloser Vögel über Holly her, und erneut drückte sie Jims Gesicht an die Brust. Doch diesmal verzichtete sie darauf, den Kopf zu senken und die Augen zu schließen. Ungeschützt blieb sie im Mahlstrom aus Flügeln, Schnäbeln und Krallen stehen, blickte in kleine, glänzende, pechschwarze Augen, die nie zwinkerten, die so feucht und tief wirkten wie das Spiegelbild der Nacht auf dem Meer, jedes einzelne so gnadenlos und grausam wie das Universum, wie die elementare Erbarmungslosigkeit im menschlichen Herzen. Als Holly in diese Augen starrte, wußte sie, daß sie in den geheimsten und dunkelsten Teil von Jims Ich sah, den sie auf eine andere Art und Weise nicht erreichen konnte. Sie sprach seinen Namen, rief und schrie nicht, richtete keine flehentlichen Bitten an ihn, brachte weder Furcht noch eigenen Zorn zum Ausdruck. Ganz sanft nannte sie seinen Namen, immer wieder, mit all der Zärtlichkeit und Liebe, die sie für ihn empfand. Die Vögel prallten so heftig gegen sie, daß Flügel brachen; Schnäbel öffneten sich und kreischten ihr direkt ins Gesicht; Krallen zupften drohend an Kleidung und Haar, ohne zu zerreißen, ohne sich in ihre Haut zu bohren - eine letzte Chance zur Flucht. Die Geschöpfe versuchen, sie mit den Augen einzuschüchtern, mit den kalten, gleichgültigen Augen hungriger Raubtiere. Aber Holly ließ sich davon nicht beeindrucken, wiederholte Jims Namen, offenbarte ihm ihre Liebe, sprach pausenlos auf ihn ein, bis …
    … bis die Vögel verschwanden.
    Sie kehrten nicht zum Himmel zurück wie vorher. Sie lösten sich einfach auf. Im einen Augenblick umhüllten sie Holly mit flatternden Schwingen und lautem Krächzen, und im nächsten existierten sie nicht mehr.
    Holly hielt Jim einige weitere Sekunden lang umarmt, dann ließ sie ihn los. Er wirkte noch immer wie in Trance, und sein Blick reichte ins Leere.
    »Jim«, sagte Henry Ironheart beschwörend und streckte einmal mehr die Hand nach seinem Enkel aus.
    Jim zögerte kurz, glitt dann von der Bank und sank vor dem alten Mann auf die Knie. Er nahm die fleckige Hand und küßte sie.
    Jim blickte nicht zu Holly oder Henry auf, als er sagte: »Großmutter sah, wie der Feind aus der Wand kam. Das war noch nie zuvor geschehen; er manifestierte sich zum erstenmal.« Seine Stimme kam wie aus weiter Ferne. Ein Teil von ihm schien nach wie vor in der Vergangenheit zu weilen und das entsetzliche Ereignis noch einmal zu erleben, dankbar dafür, daß es für ihn nicht ganz so schrecklich war, wie er befürchtet hatte. »Sie sah ihn und erschrak so sehr, daß sie zurücktaumelte, fiel und die Treppe hinunterstürzte …« Er preßte sich die Hand seines Großvaters an die Wange und fügte hinzu: »Ich habe sie
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