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Die Judas-Verschwörung: Mysterythriller (German Edition)

Die Judas-Verschwörung: Mysterythriller (German Edition)

Titel: Die Judas-Verschwörung: Mysterythriller (German Edition)
Autoren: Scott McBain
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Menschen, deren Gedanken der Seele Kraft spendeten, damit sie der Vollkommenheit näherkam? Handelte es sich bei diesen Menschen nicht um die spirituellen und göttlichen Teile des eigenen Selbst?
    »Die Bibliothek schließt heute schon am frühen Nachmittag, aus verwaltungstechnischen Gründen.«
    Die rund zwanzig Leser blickten auf. Sie hatten sich in ihre Welt zurückgezogen, in ihre Bücher vergraben, weshalb es einen Augenblick dauerte, bis sie in die Gegenwart zurückkehrten. Manche erkannte der Vorsteher des Geheimarchivs ohne Mühe. Es kam ihm sogar vor, als hätten sie ihr ganzes Leben in diesem engen Raum zugebracht – suchend, stöbernd, Wissen ausgrabend. Eine Leserin hatte beinahe ihr ganzes Erwachsenenleben hier verbracht und die Frühgeschichte der ägyptischen – der koptischen – Kirche erforscht. Der Präfekt hatte sie vor dreißig Jahren kennengelernt, als er zum Assistenten der Bibliothek ernannt wurde. Damals war sie eine junge Frau – hübsch, mit einem eher dunklen Teint und Augen, die sie züchtig niederschlug, wenn sich ihre Blicke trafen. Heute war sie blasser, ihre Frische verschwunden. Warum hatte sie nie geheiratet? Wieso hatte sie so viel Zeit damit verbracht, in Bücher zu schauen, als spähte sie in einen Brunnen? Vielleicht war sie ja wie er – ständig auf der Suche nach etwas, das über die eigene Person hinauswies, nach etwas Tieferem? Seltsam, dass er der Frau diese Fragen nie gestellt hatte. Aber es hatte sich nie die Gelegenheit dazu ergeben, nicht wahr? Nachdem sie sich als junge Leute kennengelernt hatten, hatte er die Bibliothek verlassen und im Ausland kirchliche Arbeit geleistet. Inzwischen aber war er in den Vatikan zurückgekehrt und leitete seit einem Monat das Geheimarchiv. Dennoch hatte er kaum mehr als ein paar Worte mit der Frau gewechselt. Er hatte kurz gelächelt, als er an ihrem Lesetisch vorbeiging, und sie hatte sein Lächeln erwidert. War er schüchtern, oder versuchte er längst vergessene Gefühle zu verbergen? Begann da ein zartes Liebesabenteuer, das nie über seine ängstliche Phantasie hinausgewachsen war? Der Präfekt hustete wieder. Die Leser blickten weiter auf die rundliche Gestalt im schwarzen Priestergewand.
    »Die Bibliothek schließt heute um 17 Uhr statt um 17 Uhr 30.«
    Pater Gabriele wies auf eine große Wanduhr, die anzeigte, dass den Lesern noch zwanzig Minuten Zeit blieb. Und damit verließ er den Lesesaal. Er ging über einen Flur, bog nach rechts, öffnete eine Tür und betrat sein Büro. Es war klein und beengt. Mahagonitäfelung und an allen Wänden Bücher. Hinter dem Schreibtisch hing ein großes Gemälde der Jungfrau Maria. Er setzte sich auf seinen Drehstuhl und überblickte sein kleines Reich. Sein Vorgänger hatte hier viele Jahre als Leiter des Geheimarchivs verbracht, das Zimmer spiegelte seinen konservativen Geschmack wider. Er war kürzlich im Schlaf verstorben, und Gabriele hatte sich gewundert, dass man ihn zum Nachfolger ernannt hatte. Gewiss: Er war im richtigen Alter – Ende fünfzig – und besaß die richtige Qualifikation, seine Forschungsgebiete waren Althebräisch und Altgriechisch. Doch andere im Vatikan konnten einen noch beeindruckenderen Lebenslauf vorweisen, darunter der derzeitige Leiter der Vatikanischen Bibliothek – jenes Bereichs der Bibliothek, der der Öffentlichkeit zugänglich war, anders als das Geheimarchiv, das nur wenigen Forschern zur Verfügung stand. Trotzdem hatte ihn der Kardinal, der für diese Fragen zuständig war, zum Präfekten des Geheimarchivs ernannt. Vielen – einschließlich Gabriele selbst – war das rätselhaft erschienen, aber die Wege Gottes waren eben manchmal unergründlich.
    Gabriele schloss die Augen und überlegte, besser gesagt: Er hielt ein Nickerchen, wie ein unhöflicher Mensch das genannt hätte. Exakt um 16 Uhr 55 erhob er sich und ging in den Lesesaal zurück. Nur eine Frau saß noch dort – die Ägypterin, die ihre Unterlagen zusammensuchte. Sie steckte sie in ihre Aktentasche und lächelte ihm freundlich zu. Gabriele errötete. Zögerte kurz. Dann ging er zu ihr hin.
    »Forschen Sie noch immer über Religionsgeschichte?«
    »Ja.«
    »Aber … ich kenne Sie von ganz früher. Sie sind … vor über dreißig Jahren hierhergekommen.«
    »Stimmt.« Sie schaute ihm in die blauen Augen, die so schüchtern blickten – und war amüsiert. Der Priester würde ihr fehlen. Er lebte in seiner eigenen Welt – so wie sie und ihre Gruppe.
    »Ich wurde
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