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Die irische Signora

Die irische Signora

Titel: Die irische Signora
Autoren: Maeve Binchy
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gefragt. »Nun, recht ruhig«, antwortete er.
    »Ach, haben Sie’s gut! Ich war gestern abend auf einer Party und habe mich noch immer nicht davon erholt. Aber in dreieinhalb Stunden ist ja schon Mittag, dann werde ich meinen Kater mit einem Bierchen kurieren«, stöhnte Tony.
    »Erstaunlich … ich meine, Ihre Kondition.« Aidan hoffte, daß seine Stimme nicht allzu bitter und vorwurfsvoll klang.
    »Das scheint nur so. Für solche Unternehmungen bin ich eigentlich schon viel zu alt, aber ich habe nicht wie Sie und all die anderen eine Frau und Kinder, die mir die einsamen Stunden versüßen könnten.« Tonys Lächeln war freundlich. Wenn man ihn und seine Lebensweise nicht kennt, dachte Aidan, könnte man ihm seine Wehmut tatsächlich glauben.
    Gemeinsam marschierten sie den Gang des Mountainview College entlang, das – wenn Aidans Mutter das Sagen gehabt hät- te – nach dem heiligen Kevin benannt worden wäre, oder besser noch nach dem heiligen Antonius. Antonius war der Schutzpatron, den man anrufen mußte, wenn man etwas verlegt hatte, und das tat Aidans Mutter mit zunehmendem Alter immer öfter. Ein dutzendmal am Tag fand sie mit Hilfe des Heiligen ihre Brille wieder. Da war es doch das mindeste, daß man sich erkenntlich zeigte und die hiesige Schule nach ihm benannte. Aber wenn ihr Sohn erst einmal Direktor wurde … sie war jedenfalls zuversichtlich.
    Die Kinder rannten an ihnen vorbei, manche riefen im Chor »guten Morgen«, andere schauten verstockt zur Seite. Aidan Dunne kannte sie alle, auch ihre Eltern. Und erinnerte sich sogar an viele ihrer älteren Geschwister. Tony O’Brien dagegen kannte fast keinen. Ungerechte Welt.
    »Ich habe gestern abend jemanden getroffen, der Sie kennt«, meinte Tony O’Brien plötzlich.
    »Auf einer Party? Kann ich mir kaum vorstellen«, erwiderte Aidan lächelnd.
    »Doch. Ich habe einem Mädchen erzählt, daß ich hier unterrichte, und dann hat sie mich gefragt, ob ich Sie kenne.«
    »Wie hieß sie denn?« Unwillkürlich war Aidan neugierig geworden.
    »Sie hat mir ihren Namen nicht genannt. Ist aber ein nettes Mädchen.«
    »Vielleicht eine ehemalige Schülerin?«
    »Nein, sonst hätte sie mich ja auch gekannt.«
    »Wirklich rätselhaft«, sagte Aidan und schaute Tony O’Brien nach, wie er ins Klassenzimmer zu seiner Oberstufe ging.
    Unerklärlicherweise herrschte sofort absolute Stille im Klassenzimmer. Warum hatten sie nur solchen Respekt vor ihm? Aus Angst, beim Schwätzen oder Herumtoben erwischt zu werden? Herrgott, dabei konnte sich Tony doch nicht einmal ihre Namen merken! Er korrigierte ihre Arbeiten nur nachlässig, und schlechte Zeugnisnoten bereiteten ihm bestimmt keine schlaflosen Nächte. Alles in allem scherte er sich ziemlich wenig um seine Schüler. Trotzdem suchten sie seine Anerkennung, sogar die sechzehnjährigen Jungen und Mädchen. Aidan begriff das nicht.
    Es hieß immer, Frauen würden angeblich Männer mögen, die sie hart anpacken. Mit Erleichterung dachte Aidan daran, daß Nell niemals Tony O’Brien über den Weg gelaufen war. Doch gleich darauf wurde ihm schmerzlich bewußt, daß Nell ihn in gewisser Weise auch so schon vor langer Zeit verlassen hatte.
    Als Aidan Dunne zu seiner Mittelstufenklasse ging, stand er drei Minuten an der Tür, bis halbwegs Ruhe eingekehrt war.
    Täuschte er sich oder war Mr. Walsh, der alte Direktor, hinter ihm auf dem Flur vorbeigegangen? Vielleicht war es ja nur Einbildung gewesen. Man fürchtete immer, der Direktor würde vorbeikommen, wenn die Klasse gerade besonders laut war. Das hatte Aidan buchstäblich jeder Lehrer aus seinem Bekanntenkreis bestätigt. Kein Grund zur Besorgnis, sagte sich Aidan. Der Direktor schätzte ihn viel zu sehr, um Anstoß daran zu nehmen, wenn seine Mittelstufenklasse mal ein bißchen unruhiger war als sonst. Schließlich war Aidan der verantwortungsbewußteste Lehrer des Mountainview College, das wußte jeder.
     
    An ebendiesem Nachmittag bestellte Mr. Walsh ihn ins Direktorat. Der Mann wartete sehnsüchtig auf seine Pensionierung. Heute hielt er sich zum erstenmal nicht mit oberflächlichem Geplauder auf.
    »Sie und ich sind in vielen Dingen einer Meinung, Aidan.«
    »Das hoffe ich, Mr. Walsh.«
    »Ja, wir betrachten die Dinge von derselben Warte aus. Aber das reicht nicht.«
    »Entschuldigung, ich kann Ihnen nicht ganz folgen«, bekannte Aidan wahrheitsgemäß. War das ein philosophischer Disput? Oder eine Warnung? Ein Tadel?
    »Wissen Sie, es liegt am System. An der
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