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Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe

Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe

Titel: Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Tochter, wenn schon nicht an dich. Nicht alle meinen es so gut mit euch wie ich. Selbst in Goseg mehren sich die Stimmen, die meinen, dass du das Wissen, das dir die Götter geschenkt haben, nicht länger für dich behalten darfst.« Lea wollte widersprechen, doch Nor fuhr mit einem heftigen Kopfschütteln und leicht erhobener Stimme fort: »Ich weiß, dass all das nicht gerecht ist. Mancher in eurem Dorf wäre in den letzten Wintern verhungert ohne die Gaben, die du uns gebracht hast, und nicht nur hier. Deswegen will ich dir auch nicht befehlen, sondern appelliere an deine Einsicht. Aber ich muss dich auch warnen: Verspiele nicht meine Gunst, und reize nicht die Götter Gosegs, unter deren Schutz du hier bislang unbeschadet gelebt hast!«
    Leas Gesicht verhärtete sich. Der Zorn war aus ihren Augen gewichen, aber er hatte einer Kälte Platz gemacht, die eindeutig schlimmer war. Bevor sie antwortete, löste sie sich von ihrem Platz am Fenster, trat mit drei raschen Schritten hinter Arri und legte ihr in einer ganz gewiss nicht zufälligen Geste beide Hände beschützend auf die Schultern. Arri war verwirrt und sogar ein bisschen erschrocken. Was sich draußen wie ein Streit angehört hatte, war tatsächlich einer; ja, sie war sogar sicher, dass sich die beiden einzig ihretwegen noch beherrschten, um nicht noch viel schlimmere Dinge zu sagen. Was ging hier nur vor?
    »Ihr habt eine sehr seltsame Art, Eure Dankbarkeit zu zeigen, Hohepriester«, fuhr ihre Mutter fort. »Oder ist es bei Eurem Volk üblich, diejenigen zu bedrohen, die Euch helfen, wo sie nur können?«
    »Es tut mir Leid, wenn du meine Worte so verstanden hast, Lea«, antwortete Nor, wenn auch in einem Ton, der zumindest in Arris Ohren nach dem genauen Gegenteil klang. »Ich sage es gern noch einmal, und ich sage es auch laut, vor den Ohren des ganzen Dorfes, wenn du es willst: Ich weiß, was wir dir zu verdanken haben. Aber nicht alle denken so wie ich. Und jetzt, wo die Zeit mehr als überfällig ist und du endlich in unsere Gebräuche einwilligen musst, ob du es nun einsiehst oder nicht, werde selbst ich dich und deine Tochter nicht mehr beschützen können.«
    Als er die Worte deine Tochter aussprach, verkrampften sich Leas Hände für einen Moment so fest auf Arris Schultern, dass es schon fast wehtat. Nor blieb das nicht verborgen. Ein Ausdruck von schlecht vertuschter Verletztheit huschte über sein nacktes, faltiges Gesicht, und plötzlich trat er näher, streckte die Hand aus und fuhr Arri damit flüchtig über das bis auf den Rücken reichende, glatte helle Haar. Er brachte es sogar fertig, dabei zu lächeln, aber es kostete ihn sichtliche Anstrengung. Nicht nur Arri spürte, dass er ihr ungefähr mit dem gleichen Vergnügen über den Kopf gefahren war, mit dem er eine hässliche Spinne oder ein missgestaltet geborenes Schwein gestreichelt hätte. Lea reagierte entsprechend, indem sie einen hastigen Schritt zurücktrat und ihre Tochter beinahe grob aus der Reichweite des Hohepriesters zerrte.
    »Meine Antwort ist nein«, sagte sie, machte eine winzige, aber bedeutsame Pause und fuhr dann mit leicht erhobener Stimme und unmissverständlicher Betonung fort: »Richte das nur denen aus, die nicht so denken wie du. Und was deine Sorge um meine Zukunft und vor allem die meiner Tochter angeht, so kann ich dich beruhigen. Ich bin keine junge Frau mehr, aber ich bin auch noch nicht zu alt, um nicht zusammen mit meiner Tochter an einen anderen Ort zu gehen. Vielleicht an einen, an dem man unsere Gaben mehr zu würdigen weiß.«
    Nor lächelte unerschütterlich weiter. Möglicherweise waren seine Züge aber auch einfach eingefroren - bei dem, was er da hörte. Etwas in seinen Augen erlosch jedenfalls. Er brachte es irgendwie fertig, die Wut in seinem Blick niederzukämpfen, aber weniger gut als sein Gesicht und seine Augen hatte er seinen Körper unter Kontrolle. Nor war ein uralter Mann, aber er war nach wie vor eine beeindruckende Persönlichkeit, was nicht nur an der Ausstrahlung von Macht und Autorität lag, sondern auch daran, dass er wesentlich größer als jeder andere Mann war und zudem ihre ungewöhnlich hoch gewachsene Mutter um einen halben Kopf überragte. Für einen Moment strahlte er einen solchen Zorn und eine solche Angriffslust aus, dass Arri erschrocken die Luft anhielt. Sie wäre nicht einmal überrascht gewesen, wenn der Hohepriester ihre Mutter gepackt und so lange geschüttelt hätte, bis sie ihm gab, was er von ihr wollte. Was immer
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