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Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)

Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Helga Glaesener
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mit dem Schnauzbart – er war nur wenige Jahre älter als Sophie – löste Ungeduld seinen Übermut ab. Sie sah ihm an, dass er den Ausritt genossen hatte und wie sehr es ihn anödete, jetzt auf seine frischgebackene Ehefrau zu treffen. Gereizt hob er die Gerte.
    Sophie wich gegen die Mauer zurück. Sie hasste sich für ihre Unterwürfigkeit, besonders als sie sah, wie Ediths schönes, weißes Gesicht sich höhnisch verzog. Die Frau war wenigstens zehn Jahre älter als Marsilius. Und trotzdem war es ihr gelungen, sein Herz zu erobern. Gut, gar so rätselhaft war das nicht. Ihre Haare fluteten wie flüssiger Weizen unter dem Federhut hervor. Ihr Busen wölbte sich schneeweiß aus dem Mieder. Ihre Lippen glänzten. Auf Sophie wirkte sie wie eine Amazone. Kühn und dabei trotzdem weiblich. Kein Wunder, dass Marsilius sie ihr selbst, die nur wenig Busen, schmale Hüften und ein Allerweltsgesicht besaß, vorzog.
    »Marsch, in den Hof zurück«, schnauzte Marsilius und trieb sein Pferd auch schon selbst um die Hausecke. Edith folgte ihm mit einem letzten spöttischen Blick auf das Mädchen, das sich eingebildet hatte, ihr den Platz nehmen zu können, den sie bereits seit Jahren innehatte. Wen würde er wohl gleich an seine Seite bitten, wenn es darum ging, über die Hinrichtung zu präsidieren? Die Hure oder die Ehefrau? Edith natürlich, dachte Sophie niedergeschlagen.
    Sie hörte Marsilius’ Stimme vom Hof. »Hoch aufs Podest mit dem Dreckskerl!« Unter dem Gesinde machte sich eine aufgeräumte Stimmung breit. »Nicht gar zu schnell, das hat er nicht verdient«, stachelten sie den Henker an. »Hackt ihm zuerst die Hand ab, mit der er den Jungen erstochen hat! Auge um Auge, Hand um Hand!«, forderte eine Stimme, vielleicht die von Theiß, dem Koch, oder von Jössele, der zur Wachmannschaft gehört. In Sophies Magen begann es erneut zu rumoren. Sie rannte zum Tor und winkte dem Wächter, der es gerade wieder schließen wollte. Aber er schien sie misszuverstehen, denn er ließ den Riegel fahren und kam ihr entgegen.
    Aus dem Hof dröhnte Marsilius’ Stimme. »Fang an und bettle um dein Leben, Marx von Mengersen!«
    »Wenn du deine Hure küsst, soll sie an der Scheiße ersticken, die aus deinem Mund kommt!«, brüllte der Verurteilte erstaunlich klar.
    Sophie wusste nicht, was danach geschah, sie hörte nur einen entsetzlichen Schrei – und dann gar nichts mehr. Entsetzt lief sie weiter. Vierundzwanzig breite Pferdestufen führten zum unteren Tor. Auf halbem Weg, dort wo es links zur Schmiede und zum Brandweiher ging, traf sie mit dem Wächter zusammen. Er blickte sie fragend an. Sie wies zum Hof hinauf. Marsilius wird mich prügeln, dachte sie, aber was tat’s. Nur weiter, hinaus ins Freie.
    Als sie das äußere Tor fast erreicht hatte, gellte ein vielstimmiger Schrei in ihrem Rücken. Das Schwert des Henkers hatte zugeschlagen. Der Mörder war also tot. Klopfenden Herzens stützte Sophie sich an der Mauer ab. Das Blut dröhnte in ihren Ohren. Durch den Torspalt sah sie die Häuser, die zur Burgfreiheit gehörten und die wegen des Spektakels der Hinrichtung verwaist waren, und dahinter die schneebedeckten sanften Berge der Eifel mit den schwarzen Bäumen, den Feldern und den kleinen Dörfern, die sich in die Täler schmiegten. Alles sah so friedlich aus. Die Sonne ließ den Schnee bis zum Horizont glitzern.
    Und wenn sie nun hinausliefe? Und sich zumindest ein paar Stunden Aufschub gönnte? Ihr wurde kalt, als sie an Marsilius dachte.
    In diesem Moment vernahm sie Getrappel hinter sich. Schleppend drehte sie sich um. Und hörte auf zu atmen. Es war unmöglich, was sie sah. Es musste eine Einbildung sein. Der Schimmel, das Schlachtross des Fremden, galoppierte den Weg hinab, auf seinem Rücken hing der Mörder. Sophie starrte wie hypnotisiert auf die Gestalt, die sich mit auf den Rücken gefesselten Händen über den gestreckten Hals des weißen Tieres beugte, ums Gleichgewicht rang und jeden Moment zu stürzen drohte.
    Und plötzlich war es, als würde alles langsamer. Der Blonde hob den Kopf. Er bemerkte das Tor, er registrierte, dass seine Flucht zu Ende war. Sophie sah das Erkennen und die Enttäuschung in seinem schmerzverzerrten Gesicht. Sie meinte, auch etwas wie Furcht aufblitzen zu sehen, aber da war sie sich nicht sicher.
    Dann drehte sich das Tor in den Angeln. Sie selbst musste es sein, die die schweren Bohlen beiseitedrückte, um den Spalt zu erweitern. Warum tue ich das?, dachte sie entsetzt, aber
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