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Die Heilanstalt (German Edition)

Die Heilanstalt (German Edition)

Titel: Die Heilanstalt (German Edition)
Autoren: Simon Geraedts
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die Lippen und widmete sich zum ersten Mal ihrem Teller, auf dem sich nur ein wenig Obst und Erdbeerjoghurt befanden.
    Er nickte und begab sich zum Buffettisch. Einen Moment nahm er sich Zeit, um mit geschlossenen Augen tief durchzuatmen. Als seine Wangen wieder abgekühlt waren, trat er ans Ende des Tisches zur Teekanne. Diese war von einer Menschentraube umlagert, die sich nie ganz auflöste. Ein älterer Herr schimpfte gerade mit einem Jungen, der im Begriff war, den dritten Becher in Folge zu füllen.
    »He! Lass endlich die Kanne los. Du bist wohl von allen guten Geistern verlassen!«
    Der Junge ließ es sich nicht gefallen. »Warten Sie gefälligst, bis ich fertig bin! Ich war zuerst da!«
    Der Mann schnaufte vor Empörung. »Unverschämter Bengel!«
    Als der Junge den vierten Becher vom Tablett nahm, verlor der Mann die Beherrschung – »Nix da! Jetzt ist Schluss! Weg!« – und stieß ihn grob beiseite.
    Der Junge warf dem Mann einen vernichtenden Blick zu, murmelte eine Beleidigung und stahl sich mit seinen drei randvollen Bechern davon. Im Weggehen setzte er schon den Ersten an die Lippen. Kaum war dieser Zwist beendet, begann ein neuer. Nie kam die Kanne zur Ruhe; hatte jemand seinen Becher gefüllt, wenn auch nur zur Hälfte, wurde sie ihm schon wieder aus der Hand gerissen. Patrick schüttelte den Kopf über dieses Benehmen. Er selbst war ein geduldiger Mensch und wollte einen günstigen Moment abwarten, um die Kanne ohne Streit zu erhaschen. Als sich jedoch keine solche Gelegenheit ergeben wollte, spürte er wieder jenes Ziehen im Magen, das ihn nach dem Duschen in seinem Zimmer befallen hatte. Es war ein Bedürfnis, das nach Stillung schrie, ein Verlangen, das sich juckend durch seine Eingeweide schlängelte. Es ließ zuerst seine Finger und Hände zittern, dann die Arme und Beine, schließlich seinen ganzen Körper. Seine Augen wurden feucht, und sein Mund wurde trocken. Schließlich brach ihm der Schweiß aus. Eine Weile konnte er sich noch zurückhalten; dann verlor er die Beherrschung und drängte auf den Menschenhaufen zu, der aus übereinander greifenden Armen und zur Kanne reckenden Händen bestand. Patrick vergaß seine Höflichkeit und rempelte die überwiegend mageren Leute unsanft beiseite. Als er zu der Person vorgedrungen war, die gegenwärtig im Besitz der Kanne war – eine dürre, alte Dame mit Raucherfalten und glasigen Augen – nahm er ihr das Gefäß aus der Hand und achtete nicht auf ihre Beschimpfungen. Selbst noch, als die Frau handgreiflich wurde, um die Kanne zurückzuerobern, ignorierte Patrick sie. Seine Wahrnehmung galt dem Tee, der leuchtend im Inneren der Kanne schwebte. Das türkisfarbene Licht verzauberte seine Sinne und entführte ihn in eine Welt des Wohlbefindens. Die Menschen um ihn herum schrien ihn an, endlich die Kanne herzugeben, sie stießen und schubsten ihn, schimpften ihn aus und wollten ihn verjagen. Doch Patrick war betäubt vom Anblick der Flüssigkeit, gefangen in den Mustern, die sich in ihrer Bewegung immerzu neu bildeten. Wie in Zeitlupe nahm er einen Becher vom Tablett und schenkte sich ein. Er beobachtete mit Begeisterung, wie der Tee in den Becher rann und ihn langsam bis zum Rand füllte. Anschließend betrachtete er den gefüllten Becher wie ein Kunstwerk, ließ sich die Kanne ohne Gegenwehr entreißen und verließ zufrieden die Menschentraube.
    Als er Platz hatte und frei atmen konnte, setzte er den Becher an die Lippen und ließ den Tee Schluck für Schluck seinen trockenen Rachen hinab rinnen. Im Moment des Trinkens stieg er in eine höhere Welt empor; die Umgebung verblasste, die Geräusche verstummten, seine Wahrnehmung schwand. Nur ein Gefühl höchster Befriedigung verblieb, das ihn durch und durch erfüllte, ein Gefühl von Lebensfreude und Ausgeglichenheit, Frische und Vitalität.
    Anschließend blickte er lächelnd in den leeren Becher, in dem bis vor wenigen Augenblicken der Tee geschimmert hatte, und erfreute sich an der Vorstellung, dass dieses Leuchten nun in seinem Inneren fortdauerte. Und tatsächlich spürte er es als sanfte Wärme in seinem Magen, der noch vorhin so sehr rebelliert hatte.
    Er tänzelte zurück zum Tisch, an dem Judith mit einem Löffel in ihrem Erdbeerjoghurt herumrührte und so tat, als würde sie noch essen. In Wahrheit wartete sie, dass Patrick zurückkehrte. Sie lächelte, als er sich wieder zu ihr setzte.
    »Da bist du ja endlich! Scheint ja einiges los gewesen zu sein, was?«
    Patrick seufzte vor
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