Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die große Flut

Die große Flut

Titel: Die große Flut
Autoren: Madeleine L'Engle
Vom Netzwerk:
Erdbeben – falls es eines gewesen war – hatte nicht einmal eine Minute gedauert, aber solche Kräfte freigesetzt, daß sich eine gut mannshohe Felsplatte wie eine Klippe aus dem Boden aufgefaltet hatte. Sie war zerschrundet und rissig, bot jedoch willkommenen Schatten.
    Die beiden Jungen rappelten sich auf und suchten unter der Klippe Schutz. Sandy tastete prüfend über den Stein; er fühlte sich kühl an. »Laß uns einen Augenblick rasten.«
    Stumm saßen sie da und genossen die vorübergehende Erleichterung. Schließlich sagte Sandy: »Bist du sicher, daß wir das alles Vaters Experiment zu verdanken haben? Könnte nicht auch bei Mutter etwas danebengegangen sein?«
    »Sie erforscht wieder einmal subatomare Partikel«, überlegte Dennys. »Gestern abend hat sie beim Essen über nichts anderes gesprochen.«
    »Das klang verrückt«, sagte Sandy. »Teilchen, die angeblich den Keim zur Existenz in sich tragen.«
    »Stimmt.« Dennys nickte. »Virtuelle Partikel. Beinahe- Teilchen, die es sozusagen nicht wirklich gibt, die aber aus sich heraus entstehen wollen.«
    Sandy schüttelte den Kopf. »Mutters subatomare Experimente betreffen fast immer so… so unvorstellbar kleine Massen, daß es egal ist, ob einer ins Labor kommt oder nicht. Nein, unsere Situation hängt schon eher mit Vaters Arbeiten zusammen. Warum haben wir aber auch nicht ganz gewöhnliche Eltern! Wäre er Klempner oder Elektriker und sie Sekretärin, würden wir ein völlig normales Leben führen und…«
    Er unterbrach sich. Wieder hatte die Erde zu zittern begonnen. Diesmal war es nur ein kurzes Beben. Die beiden sprangen erschrocken auf.
    »He!« Sandy prallte zurück.
    Hinter der Felsklippe war eine Gestalt aufgetaucht. Ein Mensch, der ihnen nicht einmal bis an die Brust reichte, aber kein Kind, ein Mann. Muskulös gebaut, dunkelhäutig, mit Bartflaum über den Lippen und am Kinn. Er trug ein Lendentuch und an der Hüfte einen kleinen Beutel. Zu dem griff er in einer raschen, erschrockenen Bewegung.
    »Warte!« Sandy hielt ihm beschwichtigend die offenen Handflächen entgegen.
    Dennys machte es ebenso. »Wir tun dir nichts.«
    »Wer bist du?« fragte Sandy.
    »Wo sind wir?« wollte Dennys wissen.
    Der Kleine musterte sie, neugierig und verängstigt zugleich. »Riesen!« rief er. Die Stimme eines jungen Mannes, aber tiefer als die von Sandy und Dennys.
    Sandy schüttelte den Kopf. »Wir sind keine Riesen.«
    »Wir sind Kinder«, sagte Dennys. »Und wer bist du?«
    Der Jüngling legte die flache Hand auf die Stirn. »Japheth.«
    »Heißt du so?« fragte Sandy.
    Wieder berührte der andere die Stirn. »Japheth.«
    Vielleicht war das in diesem Teil des Universums so Brauch. Sandy ahmte die Geste nach. »Sandy.«Und Dennys sagte: »Dennys.«
    »Riesen«, flüsterte der junge Mann.
    »Nein«, korrigierte Sandy. »Kinder.«
    Der Mann rieb sich die Schläfe, an der eine kleine, dunkle Beule wuchs. »Ein Stein traf mich. Muß doppelt sehen.«
    »Japheth?« fragte Sandy.
    Der junge Mann nickte. »Seid ihr zwei? Oder eins?« Jetzt rieb er sich ungläubig die Augen.
    »Zwei«, sagte Sandy. »Wir sind Zwillinge. Ich bin Sandy. Er ist Dennys.«
    »Zwillinge?« fragte Japheth. Wieder zuckten seine Finger nach dem Beutel an der Hüfte. Er enthielt winzige Pfeile.
    Dennys suchte nach den richtigen Worten. »Zwillinge entstehen, wenn…«, begann er, unterbrach sich aber, weil eine wissenschaftliche Erklärung vielleicht doch nicht das Geeignete war. »Zwillinge kommen, wenn eine Mutter zwei Jungen wirft.«
    »Ihr seid also Tiere?«
    Sandy schüttelte den Kopf. »Wir sind Menschen. Kinder. Jungen.« Er sah, daß bei den winzigen Pfeilen auch ein winziger Bogen steckte.
    »Nein. Nein.« Der Jüngling schaute sie mißtrauisch an. »Nur Riesen sind so groß wie ihr. Und die Seraphim und die Nephilim. Aber ihr habt keine Flügel.«
    Hatte er wirklich Flügel gesagt?
    Dennys fragte: »Bitte, Jay, wo sind wir? Was für ein Ort ist das?«
    »Die Wüste. Etwa eine Stunde Fußmarsch von meiner Oase. Ich suche nach Wasser.« Er bückte sich und hob einen gekrümmten Zweig auf. Hatte er den vorhin fallen lassen? »Gelbholz eignet sich am besten für eine Wünschelrute, und die ist von meinem Großvater.« Er unterbrach sich und rief, so wie Sandy und Dennys daheim nach ihrem Hund gerufen hätten: »Higgaion! Hig! Wo bist du? Hig!« Er schaute die Zwillinge mit großen Augen an. »Wenn ihm etwas widerfahren ist, wird mich Großvater… Es gibt ja nur noch so wenige.«
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher