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Die Glasblaeserin von Murano

Die Glasblaeserin von Murano

Titel: Die Glasblaeserin von Murano
Autoren: Marina Fiorato
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die Hand um, mit der Corradino ihm den Beutel hinhielt, und betrachtete aufmerksam seine Fingerspitzen. Sie waren ganz glatt, ohne Linien. Als er zum Sprechen ansetzte, blitzten die Augen hinter der Maske seines Gegenübers warnend auf. Da sagte der Pater bloß: «Ich werde dafür sorgen, dass sie es bekommen.» Und dann fügte er hinzu, so als wüsste er, was geschehen würde: «Möge Gott Euch beschützen.» Für einen Augenblick trafen sich eine kalte und eine warme Hand, dann fiel die Tür ins Schloss.
    Ziellos setzte Corradino seinen Weg fort. Als er weit genug von dem Waisenhaus entfernt war, nahm er endlich seine Maske ab.
    Soll ich einfach weitergehen, bis sie mich einholen? Wie wird es vor sich gehen?
    Plötzlich wusste er, wohin er sich wenden würde. Die Nacht brach herein, während er durch die Straßen eilte, und die Wellen des Kanals schlugen leise an die Ränder der colli. Es klang wie ein Lebewohl. Nun vernahm Corradino die Schritte, die ihm in gleichmäßigem Abstand folgten. Er lief bis zur Calle della Morta - der Straße des
    Todes -, dort blieb er erwartungsvoll stehen. Die Schritte verhallten. Ohne sich umzudrehen, wandte Corradino sein Gesicht zum Kanal und fragte leise: «Wird Leonora in Sicherheit sein?»
    Das Schweigen schien kein Ende zu nehmen. Dann endlich antwortete eine Stimme, trocken wie Staub: «Ja. Ihr habt das Ehrenwort der Zehn.»
    Corradino atmete erleichtert auf. Jetzt war er bereit für das Ende.
    Als das Messer in seinen Rücken drang, lächelte er wissend, noch bevor er den Schmerz spürte. So glatt und geschmeidig, wie das Messer zwischen seine Rippen glitt, konnte das nur eines bedeuten. Er lachte freudlos auf -das alles hatte etwas Ironisches. Da war er extra zum Hafen geeilt, um seinem Tod einen würdevollen Glanz zu verleihen, und jetzt das. Wie töricht war er doch gewesen, sich für einen Helden zu halten, der mit großartiger Geste sein Leben opferte! In Wahrheit waren sie es gewesen, die den letzten Akt theatralisch in Szene gesetzt hatten. Überaus passend hatten sie seinen Abgang geplant - wie das Ende eines Maskenballs. Ein wahrhaft venezianischer Abgang. Sie hatten ihn mit einem Dolch aus Glas getötet - aus Muranoglas.
    Wahrscheinlich habe sogar ich selbst ihn gefertigt.
    Die Luft wurde knapp, und sein Lachen wandelte sich in ein flaches Röcheln. Er spürte, wie der Mörder die Klinge herumdrehte, um den Griff abzubrechen, und wie sich die Wunde über der Klinge schloss. Jetzt blieb nichts außer einer kleinen Schramme an jener Stelle zurück, an der die Waffe in seinen Körper gedrungen war. Corradino kippte vornüber in den Kanal, und unmittelbar bevor er aufschlug, erblickte er zum letzten Mal in seinem Leben sein Spiegelbild im Wasser. Er sah einen Narren, der über seinen eigenen Tod lachte. Dann   schlugen die Wellen über seinem Körper zusammen, er versank in den eisigen Tiefen, bis nichts als ein kleines Gekräusel auf der Wasseroberfläche zurückblieb.
     

Kapitel 2
    Belmont
    Um Punkt vier Uhr morgens wachte Nora Manin auf. Das war für sie nicht ungewöhnlich, und so blinzelte sie nur verschlafen auf die Leuchtanzeige der Digitaluhr neben ihrem Bett. Seit Stephen sie verlassen hatte, war sie jede Nacht um diese Zeit wach geworden.
    Manchmal las sie dann, manchmal holte sie sich einen Drink und schaute Fernsehen, um mit den geistlosen Nachtprogrammen für Schlaflose ihr Hirn zu betäuben. Doch heute Nacht war es anders. Heute Nacht war nicht mehr daran zu denken, wieder einzuschlafen, denn morgen - nein, heute - fuhr sie nach Venedig, um ein neues Leben zu beginnen.
    Bis auf die Digitaluhr und das Bettzeug waren bereits all ihre Habseligkeiten in Kisten und Taschen verpackt. Noras ganzes Leben war ordentlich verstaut und bereit, irgendwo zwischengelagert zu werden.
    Gähnend erhob sie sich und schlurfte ins Badezimmer. Das grelle Licht der Neonröhre über dem Waschbecken weckte langsam ihre Lebensgeister. Sie spritzte sich Wasser ins Gesicht und betrachtete es dann aufmerksam im Spiegel. Sie fragte sich zum wiederholten    Mal, ob sie das Richtige tat. Ihr Gesicht spiegelte Furcht wider. Nora presste sich beide Hände auf den Leib, auf die Stelle zwischen Rippen und Magengrube, wo, schwer wie ein Stein, ihre Trauer saß. Ohne Zweifel hätte Stephen einen medizinischen Fachausdruck dafür parat, etwas Langes, Lateinisches, Unverständliches. «Ich habe es so satt», sagte sie laut zu ihrem Spiegelbild.
    Genau so war es. Sie hatte es satt,
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