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Die Gilde der Diebe

Titel: Die Gilde der Diebe
Autoren: Tom Becker
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und seine Haare standen wirr in alle Richtungen ab. Eine schäbige Schultasche hing über seiner Schulter. Ein aufmerksamer Beobachter hätte sich vielleicht gewundert, warum der Junge um diese Tageszeit nicht in der Schule war, aber so genau nahm ihn niemand wahr. Genauer gesagt, beachtete man ihn eigentlich überhaupt nicht.
    Es war alles so frustrierend. Jonathan hatte über eine Stunde im Einkaufszentrum verbracht und versucht, sich bemerkbar zu machen. In dem riesigen Sportgeschäft war er mit einem Fußball durch die Gänge gedribbelt und hatte diverse Doppelpässe gegen die Wand gespielt, aber niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihn davon abzuhalten. Anschließend hatte er im Musikladenherumgelungert und reihenweise die Regale mit den CDs und DVDs durcheinandergebracht, ohne auch nur einen argwöhnischen Blick zu kassieren. Er hatte jeden Wachmann herausfordernd angeblickt, aber sie hatten ihn alle ignoriert. Er war wieder unsichtbar.
    Ein Monat war vergangen, seit Jonathan die finsteren Straßen Darksides verlassen hatte und in das gewöhnliche London zurückgekehrt war. Die Rückkehr war ihm nicht leichtgefallen. Das Problem war, dass Jonathan sich verändert hatte. Es gab Zeiten in Darkside, zu denen er viel darum gegeben hätte, sich in sicherer Langeweile zu fühlen. Nun aber, da er mit der öden Routine seines täglichen Lebens konfrontiert wurde, sehnte er sich nach Aufregung, nach dieser Adrenalinwelle, die ihn von einem Schlamassel zum anderen gespült hatte. Es war, als brauchte er inzwischen dieses Angstgefühl.
    Obwohl die Klimaanlage lief, herrschte im Einkaufszentrum eine frühsommerliche Hitze. Sanfte Instrumentalmusik drang aus den versteckten Lautsprechern. Jonathan betrachtete die umherlaufenden Kunden mit Geringschätzung. Wie konnte es sein, dass sie von nichts wussten? Wie konnte man nur so blind sein? Wenn er ruhig stehen blieb und die Augen schloss, dann konnte Jonathan die Existenz von Darkside förmlich spüren – wie eine riesige, bösartige Krake, tief unter London verborgen, deren Pfade sich wie Tentakel bis in die Stadt erstreckten. Er wusste, dass sich irgendwo in seiner Nähe eine geheime Falltüroder ein sumpfiger Kanal befanden, die ihn dorthin zurückführen konnten. Jonathan fragte sich, ob seine Sinne ihm den Weg weisen könnten. Schließlich war er ein Halbdarksider: Die Schattenwelt pulsierte in seinen Adern.
    Aber er konnte nicht dorthin zurückkehren. Er hatte es versprochen. Irgendwie war es eigenartig, dass die Erinnerung an die Gefahren bereits verblasst war. Nachdem sie zwei der mächtigsten Männer Darksides überlistet hatten – den Bankier und Vampir Vendetta sowie Darksides Thronfolger Lucien Ripper –, hatten Jonathan und sein Verbündeter Carnegie damit gerechnet, von einer Welle rachelüsterner Gewalt überrollt zu werden. Wochenlang hatte der Wermensch seine Nächte damit verbracht, mit der Waffe im Anschlag auf einem Stuhl zu sitzen und die Tür zu beobachten. Im Zimmer nebenan war Jonathan jedes Mal hochgeschreckt, wenn ein Fensterladen klapperte oder eine Bodendiele knarzte.
    Die Zeit verging, und sie begriffen schließlich, dass niemand hinter ihnen her war. Dafür hatte der »Darkside-Kurier« gesorgt. In einer Reihe reißerischer Artikel wurden nicht nur die wahren Identitäten von Lucien und Marianne als Kinder von Thomas Ripper enthüllt. Auch dass Lucien zwölf Jahre zuvor seinen Bruder James ermordet hatte, stand in den Artikeln. Eine Tat, die selbst nach Darksides Maßstäben als verabscheuungswürdig galt. Nachdem seine Tarnung aufgeflogen war und Tag für Tag die Schlagzeilen nach seinem Kopf schrien, sah sich Lucien gezwungen, vonder Bildfläche der Schattenwelt zu verschwinden. Obwohl Carnegie auf seine bekannte, nicht gerade zimperliche Art Nachforschungen betrieben hatte, schien niemand zu wissen, wohin der Ripper sich verkrochen hatte, um seine Wunden zu lecken. Jonathan hatte zwar eines Abends Vendettas Gefährt die Hauptstraße hinunterpreschen und die Pferde und Passanten zur Seite kegeln sehen, aber auch der Vampir hatte sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Die Straßen Darksides boten immer noch eine chaotische Bühne für alle Arten von Betrügern und Mördern, und nach wie vor lauerten hinter jeder Ecke Gefahren, aber das war normal in der Schattenwelt. Schließlich gab Carnegie seine Nachtwachen auf und Jonathan konnte wieder ruhig schlafen.
    Seltsamerweise schien diese scheinbare Ruhe den Wermenschen mehr aus der
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