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Die geprügelte Generation

Die geprügelte Generation

Titel: Die geprügelte Generation
Autoren: Ingrid Müller-Münch
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abstrahieren kann, also so sechs Jahre alt ist, weiß man einfach nicht, ob man den Gang die Kellertreppe hinunter mit dem Rohrstock in der Hand überlebt. Jedes Mal, wenn ich den Schmerz der Schläge spürte, wenn es los ging mit der Prügelei, habe ich geglaubt, ich werde sterben. Schon wenn es die Treppe runter in den Keller ging, habe ich gedacht, nun ist es aus. Dieses Mal überlebe ich es nicht.«
    Sie hat es überlebt. Den Ballast der Erinnerung aber lange mit sich herumgetragen. »Erst als ich schon über Dreißig war und eine Therapie machte, ist mir endlich klar geworden, dass meine Eltern mich einfach furchtbar misshandelt haben. Ich habe einen Onkel, mit dem sich meine Familie zerstritten hatte und den ich erst später kennenlernte. Dem habe ich erzählt, wie es uns Kindern zu Hause ergangen ist. Woraufhin der sagte, ja, er hätte, als wir klein waren, das auch schon beobachtet, und er mache sich heute noch Vorwürfe, dass er da nichts gesagt habe. Dieser Onkel schrieb mir in einem Brief, das, was deine Eltern mit euch gemacht haben, stünde heute unter Strafe. Das hat mich enorm beruhigt. Er ist der erste aus meiner Familie, der mal bezeugt, ja, wir sind misshandelt worden.«
    Entweder sie oder ich
    Sonjas Vater ist früh gestorben. Ihre Mutter hat noch lange gelebt. Aber da sie es war, die Sonja die Prügel verabreicht hatte, während der Vater nur die Brüder schlug, hegte die Tochter vor allem gegen diese Mutter einen heftigen Groll. Eine Zeit lang hat sie versucht, mit ihr über all das zu reden. Doch es brachte nichts. »Als ich ungefähr 40 Jahre alt war, habe ich den Kontakt zu meiner Mutter ganz abgebrochen. Ich habe sie auch bis zu ihrem Tod nicht mehr gesehen. Der Grund hierfür war, dass sie immer alles geleugnet hat. Mir immer versicherte, so, wie ich die Vergangenheit schildere, sei sie nicht gewesen. Ich übertriebe da ganz gewaltig. Außerdem hatte ich das Gefühl, diese Traumata werden jedes Mal reaktiviert, wenn ich sie besuche. Sie machte da auf liebevolle Mutter und große Tochter. Nein, was sind wir doch ein nettes Gespann! Dabei war es furchtbar, was für mich da drunter lag.«
    Bei einem von Sonjas letzten Besuchen reichte die Mutter ihr einen Zettel. Darauf stand der Text eines Liedes von Bettina Wegner: »Sind so kleine Hände, darf man nicht drauf schlagen …«. Ob das nicht ein wunderbarer Text sei, wollte die Mutter von Sonja wissen. Die saß da wie gelähmt, hatte plötzlich den Eindruck, ihre Mutter sei »völlig verrückt geworden. Nachher, als ich darüber nachgrübelte, fiel mir ein, dass dieses Verhalten Teil ihrer Tarnung ist. Die will mir damit sagen, meine Gute, du bist verrückt, du bildest dir Dinge ein, die gar nicht passiert sind. Dass du dir vorstellst, ich könne jemals so etwas mit dir angestellt haben, ist einfach absurd.«
    Sonjas Reaktion auf Besuche bei ihrer Mutter haben dazu beigetragen, dass sie irgendwann einfach nicht mehr hinfuhr. »Ich hatte ein ganz merkwürdiges Symptom entwickelt. Wenn ich nach einem Besuch bei ihr wieder wegfuhr, bekam ich immer so am Ende des Ortes, etwa in Höhe des Ortsausgangsschildes, eine heftige Müdigkeitsattacke. Die war einfach unbeschreiblich. Ich war gezwungen, rechts ranzufahren, mein Kopf flog auf den Lenker,und ich schlief ein. Tief und fest. Für etwa eine viertel Stunde. Es waren solche Überfälle von Erschöpfung, das war unglaublich. Und ich war absolut sicher, dass es eine Auswirkung meines Besuches bei ihr war, des faulen Friedens, den ich mit ihr eingegangen war. Ab einem bestimmten Punkt war mir klar, so geht das nicht weiter. Entweder sie oder ich. Ich schaffe es einfach nicht, so wie ihre Haltung hierzu ist, in irgendeiner Form unsere gemeinsame Vergangenheit zu klären. Ich habe ihr daraufhin einen Brief geschrieben. So eine Art Abschiedsbrief. Den hat sie mir über einen Anwalt zurückschicken lassen. Danach stand für mich fest: Das mache ich nicht mehr mit.«
    Sonja vermutet, dass sich als Folge der brutalen Erziehungsmethoden ihrer Eltern die Geschwister untereinander nicht gut verstehen. »Wir trauen uns gegenseitig nicht. Ich glaube, das resultiert aus so einem Gefühl: Wir haben uns alle gegenseitig im Stich gelassen. Meine Brüder sind ein bisschen älter als ich. Ich habe sie eine Zeitlang dafür verachtet, weil sie sich wirklich nie gewehrt haben. Kürzlich erst hatte ich mal wieder Gelegenheit sie zu sehen. Nach dreißig Jahren Pause zum ersten Mal beide auf einmal. Bei einem Familienfest.
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