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Die gelehrige Schuelerin

Die gelehrige Schuelerin

Titel: Die gelehrige Schuelerin
Autoren: Ira Miller
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Jeans, Batik T-Shirts, ausgeleierten Sportpullovern, Sandalen und Stirnbändern. In der achten Klasse gabelte der Direktor mich einmal auf dem Gang auf, drückte mir zwei Dollar in die Hand und sagte, dass er mich von der Schule suspendieren lassen würde, wenn ich mir nicht augenblicklich die Haare schneiden ließe. (Mein Pony fiel kaum in die Augen, die Locken berührten gerade die Schultern.) Zwei Jahre später hatte ich einen langen, wehenden Pferdeschwanz (ich hasste diesen Scheißkerl von Direktor!). Wir schwänzten Stunden, um an Friedensveranstaltungen teilzunehmen. Klar, zu der Zeit war das mehr ein Spaß, aber wir spürten den Vietnamkrieg. Wir hatten Angst, wir wussten, was um uns herum vor sich ging.
    Die Menge hatte sich aufgelöst. Ich stand auf und legte meine Jacke über den Arm. Gus, der Hausmeister, fegte die Turnhalle aus. Er fuhr mit einem breiten, flachen Besen über den Boden. Ich winkte ihm zu. Mit seinem warmen, breiten Grinsen rief er: »Das beste Spiel, das ich bisher gesehen habe!« Seine Stimme bildete ein Echo in der leeren Halle.
    »Ja. Sie haben gespielt wie ’ne Eins.«
    Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu, stolz, an so einem wichtigen Ereignis teilgenommen zu haben.
    Ich stieg die Treppe zum Haupteingang hinunter. Sechs große Flügeltüren führten hinaus auf den Fahrweg, wo man noch einige Rücklichter der wegfahrenden Autos sehen konnte. Allein in dem Gebäude fühlte ich mich einsam und war überrascht, als ich Annie Alston vor einem der Schaukästen stehen sah. Sie betrachtete aufmerksam die Fotos.
    Annie ging in die elfte Klasse, die ich in der ersten Stunde unterrichtete. Ich erkannte sie an ihrer schlanken, jungenhaften Gestalt. Sie war eine ruhige Schülerin, schien immer eine eigene, abgesonderte Welt im Kopf zu haben, in die sie niemandem Einblick gab, außer ihrer Freundin Clara vielleicht, ihrem Schatten.
    Immer hingen die beiden zusammen. Sie liefen im Gleichschritt durch die Gänge, kicherten gemeinsam in einer Ecke und wurden sofort still, wenn jemand sich ihnen näherte. Doch Annie stach aus der Menge hervor. Sie schien nicht so überdreht, ihr Selbstvertrauen nicht so aufgesetzt zu sein wie sonst bei Sechzehnjährigen. Sie besaß eine gewisse Reife. Oder Kultiviertheit? Oder Zuversichtlichkeit? Selten beteiligte sie sich am Unterricht, überraschte mich dann aber durch ihre intelligenten Aufsätze. Man konnte sie für schön halten mit ihren langen, glatten, dunklen Haaren, dem schmalen Gesicht und den strahlenden Augen, aber man sah sie nie mit Jungen zusammen.
    Gus, der ein schweres Eisengitter vor die Türen schob, um die Halle abzuschließen, erinnerte mich daran, dass es Zeit zum Gehen wäre.
    Ich war nicht in der Lage herauszufinden, woran ich bei Annie war, was in ihrem Kopf vorging. Vielleicht war es auch die Tatsache, dass sie mich ständig zu ignorieren schien, die mich immer ein wenig an ihr faszinierte. Niemals schmeichelte sie mir oder spielte das »Oh, Mr. Lester«-Spiel mit mir wie die anderen Mädchen. Meine Anwesenheit quittierte sie stets mit einem beinahe versteckten Lächeln, das mich verunsicherte.
    Bei dem Geräusch von Gus’ Eisengitter drehte Annie sich um. Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht. Es war, als hätte sie meine Anwesenheit schon die ganze Zeit über bemerkt (mein Spiegelbild im Fenster?). Ich war verlegen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie wusste, was ich gerade dachte.
    »Hallo, Mr. Lester«, sagte sie beiläufig.
    »Eh, hast du deine Mitfahrgelegenheit verpasst?«, war alles, was ich herausbrachte. Ich fühlte mich ertappt.
    »Meine Mutter kommt erst in zwanzig Minuten nach Hause. Sie arbeitet. Ich werde sie nachher anrufen.«
    »Vater?«
    »Was?«
    »Vater.«
    »Ich habe Sie schon beim ersten Mal verstanden«, sagte sie und drehte sich wieder zum Fenster um. Ich wusste nicht, was ich sonst noch sagen sollte und ging deshalb auf den Ausgang zu.
    »Gute Nacht, Mr. Lester«, sagte sie wesentlich freundlicher als bei der Begrüßung.
    »Ich könnte …«
    »Nicht nötig.«
    »… dich nach Hause fahren«, stieß ich hervor. Ich hätte es nicht sagen sollen. Lehrer wurden oft gewarnt, Schüler nicht nach Hause zu fahren. Wir waren für ihre Sicherheit total verantwortlich und standen immer mit einem Bein im Gefängnis. »Es macht keine Umstände. Wo wohnst du, Annie?«
    »Auf der anderen Seite der Hauptstraße, ungefähr zehn Minuten von hier.«
    »Kein Problem«, ich hielt ihr die Tür auf.
    Während ich fuhr, war sie
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