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Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)

Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)

Titel: Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
Autoren: Katherine Pancol
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Krawatte er es kombinierte. Immer wieder sagte er sich, dass er sein Glück versuchen und sich selbst als Kandidat bewerben sollte. Er sagte es sich jeden Abend und tat es doch nicht. Denn dazu würde er Ausscheidungsrunden bestreiten müssen, und allein dieses Wort bereitete ihm Bauchschmerzen.
    Er nahm den Deckel von einem Eiskübel, holte behutsam zwei Würfel heraus, ließ sie in ein Glas fallen und schenkte sich einen weißen Martini ein. Er bückte sich, um einen Faden vom Teppichboden aufzuheben, richtete sich wieder auf, trank einen kleinen Schluck und schmatzte leise, um seine Zufriedenheit zum Ausdruck zu bringen.
    Jeden Morgen spielte er Schach. Jeden Morgen folgte er der gleichen Routine. Aufgestanden wurde um sieben, zur gleichen Zeit wie die Kinder, zum Frühstück gab es Vollkorntoast, auf Stufe vier getoastet, zuckerfreie Aprikosenmarmelade, gesalzene Butter und frisch gepressten Orangensaft. Dann dreißig Minuten Gymnastik, Übungen für den Rücken, den Bauch, die Brustmuskulatur, die Oberschenkel. Lektüre der Zeitungen, die ihm die Mädchen abwechselnd holten, ehe sie zur Schule gingen, gründliches Studium der Stellenanzeigen, Versand seines Lebenslaufs, wenn ihm ein Angebot interessant erschien, Duschen, Nassrasur mit Seife, die unter dem Rasierpinsel aufschäumte, Wahl der Kleidung für den Tag und, endlich, eine Partie Schach.
    Die Wahl der passenden Kleider war der anstrengendste Teil des Morgens. Er wusste nicht mehr, wie er sich anziehen sollte. Freizeitlook, zwanglose Bürokleidung oder Anzug und Krawatte? Als er eines Tages nur schnell einen Trainingsanzug übergestreift hatte, hatte ihn seine ältere Tochter Hortense gefragt: »Arbeitest du nicht, Papa? Hast du die ganze Zeit Urlaub? Mir gefällt es viel besser, wenn du gut aussiehst, mit einem schicken Jackett, einem schicken Hemd und einer Krawatte. Hol mich nie wieder im Trainingsanzug von der Schule ab.« Und weil er an jenem Morgen, jenem ersten Morgen, an dem sie
ihm gegenüber einen solchen Ton angeschlagen hatte, erbleicht war, hatte sie sanfter hinzugefügt: »Das sage ich doch nur deinetwegen, Papilein, damit du für immer der schönste Papa auf der ganzen Welt bleibst.«
    Hortense hatte recht, die Leute betrachteten ihn mit anderen Augen, wenn er gut gekleidet war.
    Nach seiner täglichen Schachpartie goss er die Pflanzen in den Balkonkästen, zupfte die vertrockneten Blätter ab, stutzte die alten Zweige, besprühte die frischen Knospen mit Wasser, lockerte mit Hilfe eines Löffels die Erde in den Kübeln und düngte, wenn es nötig war. Eine weiß blühende Kamelie bereitete ihm Sorgen. Er sprach mit ihr, widmete ihrer Pflege die meiste Zeit und wischte jedes ihrer Blätter einzeln ab.
    Seit einem Jahr jeden Morgen die gleiche Routine.
    Doch an diesem Morgen hinkte er seinem gewohnten Zeitplan hinterher. Die Schachpartie war knifflig gewesen, er musste aufpassen, dass er sich nicht mitreißen ließ – gar nicht so einfach, wenn man keiner geregelten Beschäftigung nachging. Nicht das Gefühl für die Zeit verlieren, die unbeachtet verrinnt. Pass gefälligst auf, Tonio, sagte er sich. Lass dich nicht gehen, reiß dich zusammen.
    Er hatte sich angewöhnt, Selbstgespräche zu führen, und runzelte die Stirn, als er hörte, wie er sich so unwirsch zurechtwies. Um die verlorene Zeit aufzuholen, beschloss er, die Pflanzen zu vernachlässigen.
    Er ging an der Küche vorbei, wo seine Frau Kartoffeln schälte. Er sah nur ihren Rücken und bemerkte wieder einmal, dass sie zunahm. Speckpolster klammerten sich an ihre Hüften.
    Als sie in diese Wohnung in einer Pariser Vorstadt gezogen waren, war sie noch groß und schlank gewesen, keine Spur von Speckringen weit und breit.
    Als sie eingezogen waren, reichten die Mädchen gerade an die Kante des Spülbeckens …
    Als sie eingezogen waren …
    Es war eine andere Zeit gewesen. Damals hatte er einfach ihren Pullover hochgeschoben, die Hände auf ihre Brüste gelegt und »Liebling!« geseufzt, bis sie nachgab, sich vorbeugte und dabei mit beiden Händen die Tagesdecke straff zog, damit sie nicht zerknitterte. Sonntags
kochte sie. Die Mädchen verlangten nach einem Messer, »um Maman zu helfen!«, oder sie streckten die Hände nach den Töpfen aus, »zum Auslecken«. Gerührt hatten sie sie betrachtet. Alle zwei bis drei Monate hatten sie sie gemessen und ihre Größe mit Bleistift an der Wand eingezeichnet. Unzählige kurze Striche, gefolgt von Daten und den beiden Vornamen: Hortense
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