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Die Gefangenen des Korallenriffs

Die Gefangenen des Korallenriffs

Titel: Die Gefangenen des Korallenriffs
Autoren: Jurij Kusnezow
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wenn er eine Weiche passierte, klingelte leise ein Glöckchen. Auf den Bahnhöfen und Vorortstationen aber warteten Puppen und andere Spielzeuggestalten auf ihren Zug, um zum Spaß mitzufahren. Auch Figuren von der Erde waren darunter. So hatten die Eltern einmal eine Strohpuppe mitgebracht, die dem berühmten Scheuch aus der im Zauberland gelegenen Smaragdenstadt nachgebildet war. Das Zauberland, vor vielen Jahrhunderten durch den großen Zauberer Hurrikap geschaffen, lag in der Nähe des nordamerikanischen Staates Kansas. Doch nicht nur der Scheuch, auch ein mächtiger geflügelter Drachen im Zimmer schien gleichfalls aus diesem Land voller Fabelwesen zu stammen. Daneben gab es bei Viola aber auch noch Spielzeug, an das sich die Eltern nicht erinnerten. Zum Beispiel einen riesigen Kraken, wie sie in den Tiefen der Erdenmeere leben, und einen Flugmolch von der Irena, eine hier recht bekannte Tierart.
    »Ist hier jemand?« fragte Ol laut.

    Keine Antwort. Die beiden suchten das Zimmer ab, konnten aber keinen Menschen entdecken.
    »Laß uns noch einmal ganz gründlich nachschaun«, schlug Vi vor.
    Sie stöberten in sämtlichen Ecken, schauten unter den Tisch, in die Schränke. Umsonst! Da war niemand. Blieb nur noch die Möglichkeit, daß sich die Eisenbahn zufällig angeschaltet hatte.
    Sie waren noch mitten beim Suchen, als erneut ein leises Klingen ertönte. Der Zug drehte abermals seine Runden!
    Plötzlich bemerkte Ol, daß der Sensorschalter aufleuchtete, als wäre er gerade erst betätigt worden. Aber von wem? Vi oder er hatten ihn auf keinen Fall berührt.
    Ol sah, daß seine Frau ebenfalls auf den Schalter starrte und ein leichtes Zittern nicht unterdrücken konnte. Er ging zu ihr, um ihr beruhigend über den Kopf zu streichen. Doch zwischen seinen Fingern und ihren Haaren tanzten auf einmal Funken.
    »Meine Güte, du bist ja elektrisch aufgeladen wie ein Kugelblitz«, sagte Ol. »Du wirst uns noch die Wohnung abbrennen.«
    Der spaßhafte Ton ihres Mannes beruhigte Vi ein wenig, ihre Erstarrung löste sich. Dann aber zog sie ihn am Ärmel und legte den Finger auf die Lippen:
    »Psst! Da ist jemand im Wohnzimmer!«
    Sie schlichen zum Korridor, und Ol öffnete vorsichtig die Tür.
    Im Wohnzimmer unterhielt sich der große Fernsehsessel mit einem Polsterstuhl. Sie standen sich gegenüber, berührten einander fast mit den Armlehnen und wackelten freudig hin und her. Es sah aus, als wären sich zwei Freunde begegnet.
    Vi war blaß geworden. Ol faßte seine Frau behutsam am Ellbogen und flüsterte aufmunternd:
    »Die beiden haben sich offenbar jede Menge zu sagen, findest du nicht? Der Stoff, mit dem sie bezogen sind, ist derselbe. Bestimmt stammen sie aus einer Garnitur.«
    Obwohl Ol ganz leise gesprochen hatte, schienen die Sitzgelegenheiten seine Worte zu hören, denn sie hielten mitten im Satz inne.
    Nun betrat Ol entschlossen das Zimmer, zog Vi fast gewaltsam hinter sich her.
    »Ich hoffe, wir stören Sie nicht allzu sehr?« wandte er sich höflich an Stuhl und Sessel. »Falls Sie sich aber allein weiter unterhalten wollen, können wir auch solange nach oben ins Schlafzimmer gehen.«
    Die beiden Möbel schwiegen.
    »Nicht? Dann dürften Sie kaum etwas dagegen haben, wenn wir hier unten Platz nehmen.« Ol steuerte seinen geliebten Sessel an.
    »Warte doch, Ol«, sagte Vi flehend, »wir wollen uns lieber nicht da reinsetzen. Ich… ich habe Angst. Ich glaube beinahe, sie sind… nun ja, lebendig.«
    »Unsinn!« widersprach Ol. »Das fehlte noch, daß wir vor unseren eigenen Stühlen Angst haben! Weißt du, was ich denke? Bis wir ins Zimmer kamen, haben einfach andere Leute drauf gesessen, die wir aus irgendeinem Grund nicht sehen konnten. Und nun haben sie den Platz für uns frei gemacht.«
    Stuhl und Sessel knarrten zustimmend. Sie glitten eifrig auf sie zu und boten ihnen ihre weichen Polster an.
    Vi wich ein Stück zurück. Sie stolperte und wäre um ein Haar hingefallen. Doch der Sessel veränderte blitzschnell seinen Standort und fing sie mit seiner Sitzfläche auf.

    Ol nahm mit dem Stuhl vorlieb.
    »Na, das nenn ich Komfort!« Er wandte sich seiner Frau zu und streckte behaglich die Beine aus.
    Vi dagegen fühlte sich wie auf einem glühenden Rost. Sie krallte krampfhaft die Finger in die Armlehnen und saß auf der vordersten Kante, bemüht, so wenig wie möglich mit dem Sessel in Berührung zu kommen. Dabei stöhnte sie leise.
    »Du solltest dich schämen, Vi«, tadelte Ol scheinbar vorwurfsvoll. »Unsere
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