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Die Friesenrose

Die Friesenrose

Titel: Die Friesenrose
Autoren: Jutta Oltmanns
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dem alten Leuchtturm, vorbei auch an der Inselkirche, weiter und immer weiter.
    Keuchend rang sie nach Luft und glaubte, das Herz werde ihr zerspringen. Nur nicht an die Verfolger denken und nicht an den Holländer! Sie hatte nicht gewollt, dass er ihretwegen erschossen wurde. War es ihre Schuld gewesen? Alles ging so schnell, so entsetzlich schnell! Es schien keine Möglichkeit zu geben, die Zeit anzuhalten, es war, als müsse dies alles geschehen.
    Inken hörte wütendes Geschrei hinter sich, das so klang, als ob es immer näher kommen würde. Blindlings rannte sie weiter und immer weiter. Ihre Verfolger holten auf, und plötzlich wurde ihr Arm von einer Hand gepackt. Inken schrie auf, doch der Franzose lachte nur. Er griff in ihr Haar und riss ihren Kopf zurück. Fassungslos starrte Inken auf sein langes Messer, das im Mondlicht blitzte. Das Blut gefror ihr in den Adern. Doch dann erinnerte Inken der Anblick der Schneide daran, dass sie ebenfalls über eine Waffe verfügte. Zitternd tastete sie nach dem Küchenmesser unter ihrer Kleidung. Triumphierend umklammerten ihre Finger die Waffe. Und mit einer einzigen schnellen Bewegung riss sie den Arm hoch und zog dem Franzosen die Klinge über das Gesicht. Ein unmenschlicher Schrei ertönte, und der feste Griff an ihremArm lockerte sich. Inken riss sich los und rannte um ihr Leben. Flüche drangen an ihr Ohr, die sie nicht verstand, deren Sinn sich ihr aber unmissverständlich mitteilte. Ihr wurde klar, dass diese Männer sie niemals am Leben lassen würden, wenn sie sie in ihre Gewalt brächten! Inken wandte sich nicht um. Sie lief und lief, bis sich endlich ein paar dunkle Wolken gnädig vor den Mond schoben und ihre Verfolger dazu zwangen, aufzugeben. Finster war es nun, und obwohl Inken jeden Fleck auf der Insel zu kennen glaubte, kam ihr die Umgebung unwirklich und fremd vor. Sie stolperte, stürzte, kam wieder hoch und rannte weiter.
    Schließlich war sie so erschöpft, dass sie keinen Schritt mehr weiterkonnte. Ihre Lungen drohten zu zerplatzen, und jeder Atemzug schmerzte. Sie blieb stehen. In diesem Moment glitten auch die Wolken wieder zur Seite, und erneut tauchte der volle Mond die Insel in seinen silbrigen Schein.
    Ängstlich blickte Inken sich um, doch niemand war zu sehen, und nichts war zu hören außer dem Rauschen der Wellen. Sie schienen nach ihr zu rufen, und wie von einer unsichtbaren Hand gezogen, ging sie Schritt für Schritt auf das Meer zu.
Abschied von der Insel
    Bisweilen, an warmen, lichterfüllten Sommertagen, lag eine heitere, fast ausgelassene Stimmung über der Insel, doch in dieser Nacht war Borkum in eine Atmosphäre schwermütiger Melancholie gehüllt. Als ob es wusste, was geschehen war.
    Wie eine Schlafwandlerin wankte Inken durch die Dünen. Sie musste fort von der Insel! Doch sie wusste nicht wie und schon gar nicht wohin! Verzweifelt sehnte Inken sich nachihrem Vater, in dessen Arme sie sich jetzt am liebsten geflüchtet und trösten hätte lassen wollen.
    „Ich bin ganz allein“, hämmerte es in ihrem Kopf, und für einen Augenblick wurde sie von Mutlosigkeit erfasst. Doch dann nahm sie wieder das Rauschen der Wellen wahr.
    Als sie endlich das Wasser sah, brachen sich ihre Tränen Bahn. Schluchzend warf sie die Schuhe in den Sand, lief den Wellen entgegen und spürte unter ihren Füßen die tiefen Furchen, die das Wasser in den nassen Sand gegraben hatte.
    „Sie sind wie mystische Zeichen“, ging es ihr durch den Sinn. „Die Natur gräbt sich eigene Wege, so wie auch das Schicksal nicht nach unseren Wünschen und Träumen verläuft.“
    Dem Unausweichlichen konnte man nicht entrinnen, genauso wenig, wie man die Flut aufhalten konnte. Hier im Watt, in einer Welt zwischen zwei Welten – nicht Land, nicht Meer und doch ein Teil von beidem –, wurde das Unausweichliche sichtbar. Inken überließ sich der Macht des Wattenmeeres, und langsam wich das Gefühl von Schuld und Ohnmacht von ihr. Stattdessen spürte sie, dass sie Teil eines machtvollen Kreislaufs war und dass alles, was geschah, eine Bedeutung hatte. Ihre Sorgen verloren plötzlich an Gewicht. Sie gewann ihre innere Ruhe zurück und die Kraft, sich aufzumachen und den Franzosen die Stirn zu bieten.
    Mit geschlossenen Augen verweilte Inken noch einen winzigen Augenblick in dieser Zauberwelt und spürte dem Gefühl von Weite und Anbeginn nach. Dann wandte sie sich entschlossen um.
    „Garrelt wird mir helfen!“
    Wie von selbst fanden ihre Füße in der mondhellen
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