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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch
Autoren: Jostein Garder
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Antworten nach dem Absenden ebenfalls. Es kann befreiend sein, seinen Gedanken und Assoziationen einmal einfach nur freien Lauf zu lassen. Es wird schon viel zu viel gespeichert und aufbewahrt, überall.
    Ich hatte deine Mail schon gelöscht, als ich es mir vorhin gemütlich gemacht habe, um sie zu beantworten. Jetzt muss ich zugeben, dass das Löschen auch seine Nachteile hat: Ich merke, dass ich gern das ein oder andere nachlesen würde. So werde ich mich auf mein Gedächtnis verlassen müssen.
     
    Du deutest an, dass hinter unserem unglaublichen Wiedersehen auf der Hotelveranda übernatürliche Kräfte gesteckt haben könnten. Was das angeht, bitte ich dich um Verständnis dafür, dass ich heute ebenso aufrichtig sein werde wie damals. Ich kann so einen Zufall nur als ein Ereignis ansehen, hinter dem sich keinerlei Wille oder »Lenkung« verbirgt. Zugegeben, hier handelt es sich um einen gewaltigen Zufall und keine Bagatelle. Aber du musst auch an all die Tage unseres Lebens denken, an denen nichts Vergleichbares geschieht.
     
    Auf die Gefahr, deinen Hang zum Okkulten noch zu schüren, muss ich dir dennoch etwas anvertrauen: Als ich mit dem Bus aus dem langen Tunnel oben bei Bergshovden herauskam, lag der Fjord in Nebel gehüllt, und ich konnte unter mir nichts sehen. Ich sah natürlich die Berggipfel, aber Fjord und Täler waren wie aus der Landschaft wegradiert. Und dann kam noch ein Tunnel, und als wir den verließen, befand ich mich unterhalb der Wolkendecke. Ich sah den Fjord und die drei Talgründe, aber jetzt konnte ich die Berggipfel nicht einmal mehr ahnen.
    Ich dachte: Ob sie auch hier sein wird? Kommt sie auch?
    Und dann warst du wirklich da, am nächsten Morgen, hast in einem mädchenhaften Sommerkleid auf der Veranda gestanden, als ich mit meiner ein bisschen zu vollen Kaffeetasse aus dem Speisesaal kam.
    Ich hatte für einen Augenblick das Gefühl, dich dort erschaffen zu haben, als hätte ich dich an genau diesem Tag in das alte, ganz aus Holz gebaute Hotel hineingedichtet. Es war, als wärst du an Ort und Stelle aus meiner Erinnerung und meiner Sehnsucht geboren worden.
    Andererseits ist es natürlich kein Wunder, dass du dich so heftig in meine Gedanken gedrängt hast, schließlich habe ich mich plötzlich wieder an einem Ort aufgehalten, den wir einmal als erotischen Winkel bezeichnet hatten. Nur: Dass wir beide gleichzeitig dort eintrafen, war dann wieder pures, reines Glück.
    Ich hatte am Frühstückstisch gesessen und an dich gedacht, während ich Orangensaft trank und auf ein Ei einhackte. Ich war vollständig benebelt von dem mächtigen Traum, den ich gehabt hatte. Dann gehe ich mit meinem Kaffee hinaus auf die Veranda – und da stehst du!
     
    Dein Mann hat mir leidgetan. Er hatte mein volles Mitgefühl, als wir ihm eine Stunde später den Rücken kehrten und zu unserer Zweisamkeit in die Berge zogen.
    Die Art, wie wir gingen, und die Art, wie wir miteinander sprachen, erschien mir als wunderschöner Nachhall von damals, als wir noch jung waren. Das Tal war dasselbe, und wie ich schon sagte: Du siehst noch immer jung aus.
    Dennoch glaube ich nicht an Fügungen des Schicksals, Solrun. Wirklich nicht.
     
    Was nun die »Preiselbeerfrau« betrifft, so berührst du damit eines der seltsamsten Erlebnisse, das ich jemals hatte. Denn ich habe sie nicht vergessen, und ich will sie auch nicht verleugnen, warte nur noch einen Moment: Da war noch etwas, was ich auf dem Heimweg gesehen habe.
    Als ihr gefahren wart, bin ich ja noch geblieben, um am nächsten Vormittag an der Eröffnung des neuen Klimazentrums teilzunehmen. Du erinnerst dich, ich sollte vor dem Mittagessen eine kleine Rede halten. Am Freitagvormittag bin ich dann mit der Schnellfähre von Balestrand nach Flåm gefahren, nach einigen Stunden von dort mit der Bahn nach Myrdal und von dort nach Oslo.
    Vor Myrdal hält die Flåmsbahn noch bei einem gewaltigen Wasserfall, dem Kjosfos. Die Touristen werden dort fast mit Gewalt aus dem Zug getrieben, damit sie den Wasserfall fotografieren oder zumindest einen Blick auf die kreideweißen Kaskaden werfen können.
    Während wir auf dem Bahnsteig standen, tauchte am Hang rechts vom Wasserfall eine Hulde auf. Sie schien urplötzlich aus dem Nichts herauszuspringen. Ebenso plötzlich war sie wieder verschwunden, aber nur für den Bruchteil einer Sekunde, um dann dreißig oder fünfzig Meter weiter unten abermals aufzutauchen. Das wiederholte sich noch zweimal.
    Was sagst du dazu? Könnte es sein,
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