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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch
Autoren: Jostein Garder
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geschafft, dieses Geschenk zusammen anzunehmen? Aber wir waren leider außer uns vor Angst. Erst bist du zusammengebrochen und hast dich von mir trösten lassen wie ein Kind, dann bist du plötzlich aufgesprungen und davongestürzt.
    Schon nach wenigen Tagen schauten wir in unterschiedliche Richtungen. Wir hatten die Fähigkeit oder den Willen eingebüßt, einander in die Augen zu blicken.
    Wir beide, Steinn. Es war nicht zu glauben.
     
    Solrun, Solrun! Du warst so schön! So strahlend in dem roten Kleid vor dem weißen Geländer, mit dem Rücken zum Garten und zum Fjord!
    Ich habe dich sofort erkannt, natürlich habe ich das. Oder hatte ich Halluzinationen? Nein, du warst es – wie aus einer anderen Epoche entsprungen!
    Und um es gleich zu sagen: Ich habe bei unserer Begegnung keine Sekunde an die »Preiselbeerfrau« gedacht.
     
    Dass du wirklich schreibst! In den letzten Wochen hatte ich so gehofft, dass du es tun würdest. Der Vorschlag zu mailen kam von mir, aber bis zuletzt hast du gesagt, du würdest dich melden, wenn es sich ergäbe, und damit lag die Initiative nun mal bei dir.
     
    Ich war so überwältigt, dass wir uns ausgerechnet in demselben entlegenen Winkel wiedersehen sollten wie damals. Es war, als hätten wir mit einer uralten Verabredung gelebt, genau dort noch einmal zusammenzukommen. Nur hatten wir so eine Verabredung gar nicht getroffen. Es war einfach nur der pure Zufall.
    Ich kam mit einer vollen Tasse auf der Untertasse aus dem Speisesaal und ließ in meiner Verwirrung den Kaffee überschwappen. Ich habe mir ein bisschen das Handgelenk verbrüht, und du hast recht, ich konnte gerade noch einen Sturz vermeiden. Ich wollte nicht, dass die Tasse auf dem Boden landet.
    Ich habe deinen Mann nur kurz begrüßt, dann musste er plötzlich dringend etwas aus dem Auto holen, so konnten wir beide ein paar Worte wechseln. Dann kam die Hotelbesitzerin heraus, vielleicht hatte sie mich durch die Halle gehen sehen und mich erkannt, von damals vor dreißig Jahren, als ihre Mutter noch das Hotel geleitet hat.
    Wir standen einander gegenüber, du und ich, und sie hielt uns offenbar für ein Ehepaar mittleren Alters, das einmal eine Liebesreise an ihren Fjord gemacht hatte, vor Urzeiten, bevor es sesshaft wurde und fürs Leben zusammenblieb – ich habe mir das übrigens vorzustellen versucht. Und jetzt waren wir endlich, vielleicht in einem Anfall von Nostalgie, in die Kulissen unseres jugendlichen Abenteuers zurückgekehrt. Natürlich mussten wir nach dem Frühstück auf die Veranda hinaus. Wie es der Zeitgeist verlangt, haben wir beide mit dem Rauchen aufgehört, selbstverständlich, aber wir mussten uns die Blutbuche, den Fjord und die Berge ansehen. Denn das hatten wir damals auch immer getan.
    Das Hotel hatte eine neue Rezeption, und es gab jetzt zusätzlich ein Touristen-Café. Aber die Bäume, der Fjord und die Berge waren noch dieselben. Wie die Möbel und Gemälde im Kaminzimmer, sogar der Billardtisch stand noch an genau derselben Stelle im Zimmer nebenan, und ich bezweifle, dass sie das alte Klavier im Musikzimmer jemals haben stimmen lassen. Du hattest darauf Debussy gespielt und Nocturnes von Chopin. Ich werde nie vergessen, wie andere Gäste sich um das Klavier versammelten. Du hast reichlich Beifall eingeheimst.
    Dreißig Jahre waren vergangen, aber es war fast, als hätte die Zeit so lange stillgestanden.
     
    Jetzt hätte ich fast die einzige wirkliche Veränderung vergessen: Die Tunnel waren neu! Wir kamen damals mit der Fähre und sind mit der Fähre wieder weggefahren. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.
    Weißt du noch, wie damals die Gewissheit, dass die letzte Fähre gekommen war, uns beruhigt hat? Damit war das Dorf von der Außenwelt abgeschnitten, und wir hatten den ganzen restlichen Abend, die Nacht und den nächsten Morgen für uns, ehe die M/F Nesøy auf den Fjord hinausfuhr und irgendwann später am Vormittag mit Fahrgästen wieder zurückkehrte. Gnadenfrist nannten wir es. Wenn es heute wäre, würden wir vermutlich den ganzen Abend auf der Veranda sitzen und die Autos mustern, die aus dem Tunnel fahren. Würden sie alle weiter nach Westen jagen, oder würden sie beim Gletschermuseum abbiegen und zum Hotel kommen, um uns zu holen, ich meine, um uns festzunehmen?
    Ich hatte übrigens vergessen, dass wir auf ihre Töchter aufgepasst haben. An alles erinnere ich mich also nicht.
     
    Ich bin einverstanden, dass wir die Mails gleich löschen, wenn wir sie gelesen haben, und die
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