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Die Frau im gepunkteten Kleid

Die Frau im gepunkteten Kleid

Titel: Die Frau im gepunkteten Kleid
Autoren: Beryl Bainbridge
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Foto, vor acht Jahren aufgenommen, als Dr. Wheeler nach London gekommen war, um sich zu verabschieden, bevor er England für immer verließ. Es war ihr neunzehnter Geburtstag, und er hatte ihr eine alte Brownie-Kamera von seiner Schwester geschenkt. Sie hatte ihn geknipst, als er vor dem Bahnhof Charing Cross stand, eine Sekunde,
bevor er die Hand hob, um sein Gesicht zu verdecken. Er trug seinen Trilbyhut.
    Washington Harold hatte ihr nicht gesagt, dass er Dr. Wheeler erkannte, er stand nur da und hielt das gerahmte Bild vor seine Brust, als nehme er einen Blumenstrauß entgegen.
    Als Rose in die Küche zurückkehrte, war das Essen fertig. Es gab kein Tischtuch.
    Sie sagte: »Dieses Geschäft, wo du den Dachständer für den Lieferwagen gekauft hast…«
    »Den Campingbus«, korrigierte er.
    »Ich kam mir vor, als wäre ich wieder in dem Dorfkrankenhaus, wo man mir den Blinddarm rausgenommen hat.«
    »Komisch«, sagte er, aber sie merkte, dass er gar nicht zuhörte.
    Während sie aßen, schilderte er ihr seine Pläne für den folgenden Tag. Erst würden sie packen, dann in die Stadt fahren und seinen Broker aufsuchen und anschließend nach Washington aufbrechen.
    »Meine Güte«, sagte sie und schlang gierig das heiße Fleisch hinunter.
    Er schenkte ihr ständig Rotwein nach, und sie trank ihn, damit die Zeit schneller verging. Nach einer Weile fühlte sie sich wesentlich besser, so selbstsicher sogar, dass sie sich eine Zigarette anzündete, ohne ihn um Erlaubnis zu fragen. Als sie sich zurücklehnte und den Rauch ausstieß, blickte er ihr auf die Brust. Sie lächelte, hatte alles im Griff. Kurz darauf
sagte er, es gebe noch eine Menge zu tun, aber da sie offenbar nicht in der Verfassung sei, ihm zu helfen, solle sie lieber ins Bett gehen. Obwohl dies womöglich als Vorwurf gedacht war, lächelte sie immer noch. Das Schlafzimmer, erklärte er, sei die zweite Tür in der Diele.
    Sie hielt es nicht für nötig, sich die Zähne zu putzen, obwohl die Bürste ganz neu war. Als sie das Nachthemd übergestreift hatte, blickte sie sich um. Im ganzen Zimmer gab es keine Bilder, keine Dekoration. An die Tür war ein Zeitungsfoto mit einer Frau gepinnt, aber ihr war so schwummerig, dass sie die Bildunterschrift nicht lesen konnte. Aus einem Lüftungsloch in der Fußbodenleiste drang warme Luft ins Zimmer, der Teppichflor umspielte ihre Zehen wie Staub. Als sie durch die Fensterläden lugte, sah sie eine Veranda mit einem Schaukelstuhl, die Rückseite von Mietshäusern, aufgereihte Mülltonnen, eine große, tropfende Platane und eine schwarze Katze, die den Campingbus umkreiste. Harold kniete auf dem Autodach, und der Himmel hinter seinem Kopf wurde dunkelblau.
    Das Bett roch muffig. Das Bettzeug war sauber, aber es roch nach längst vergangener Feuchtigkeit. Sie kannte diesen Geruch. Als sie vor Jahren einmal Zahnweh gehabt hatte, war sie zu ihrem Vater ins Bett gekrochen, um sich zu wärmen. Normalerweise schlief sie bei ihrer Mutter, in dem Zimmer mit der Statue von Adam und Eva auf dem Fensterbrett, aber
sie hatte vor Schmerzen gejammert, deshalb hatte Mutter sie auf den Flur verbannt. Sie erinnerte sich gut, nicht wegen der Zahnschmerzen, sondern weil Vater nur ein Netzhemd angehabt hatte, und als er sich im Schlaf umdrehte, schlenkerte ihr sein Ding gegen das Bein. Es gab ihr einen Stich wie von einer Biene.
    Sie schlief ein mit der hohlen Hand über der Nase und wachte auf, als Harold sich neben sie legte. »Du!«, rief sie, als hätte es jemand anderer sein sollen.
    »Ich habe den Dachständer montiert«, sagte er, als würde das seine Nähe erklären.
    Sie setzte sich auf und fragte, wie spät es sei. »Drei Uhr, Rose«, sagte er.
    »Tag oder Nacht?«, fragte sie, und er musste lachen.
    Er zog sie runter aufs Kissen und sagte, sie müsse sich für die bevorstehende Fahrt gut ausruhen. Weder versuchte er, den Arm um sie zu legen, noch kam er ihr zu nahe. Sie hörte, wie er sich den Bart kratzte, und sank wieder in den Schlaf.

2
    Harold erwachte, als der Himmel fahl wurde, und schnitt sich beim Toastbrotschneiden in den Zeigefinger. Als er den gestrigen Tag überdachte, gratulierte er sich dazu, wie alles gelaufen war. Rose hatte den Besuch bei Sears Roebuck offenbar genossen und war von seiner Wohnung beeindruckt, so unscheinbar sie sein mochte. Das war nicht weiter verwunderlich, wenn er bedachte, wie verkommen ihr viktorianisches Zimmer in London gewesen war. Freilich, beim Packen war sie keine große Hilfe gewesen,
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