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Die Frau aus Flandern - eine Liebe im Dritten Reich

Die Frau aus Flandern - eine Liebe im Dritten Reich

Titel: Die Frau aus Flandern - eine Liebe im Dritten Reich
Autoren: Claudia Seidert
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die Knöpfe mit Stoff oder bespannte sie mit Zwirn. Sie war dazu ohne Weiteres in der Lage, weil sie Schneiderin war. Das allerdings erfuhr ich erst später. Zu kaufen gab es Kleidung nicht von der Stange, die musste man selbst nähen – oder nähen lassen. Wer als Frau mit Nadel und Faden umgehen konnte wie sie, sparte der Familie viel Geld oder konnte zum Familieneinkommen beitragen.
    Das moderne Europa war gemacht aus Kohle und Stahl, angetrieben von Elektrizität und Mobilität, und die alles vorwärts drängenden Elemente waren Kapital und Konsum. Der Kulturkritiker Oswald Spengler warnte 1918 vorm ›Untergang des Abendlandes‹ und der Tyrannei der Technik, als sich noch niemand vorstellen konnte, wozu sie einst führen würde. Er traf den Zeitgeist, ein unbestimmtes Gefühl vom Ende einer Epoche und eine lähmende Zukunftsangst.
    Waren Maria und Firmin anfällig für derlei untergründige Stimmungen, für die Gefühle des Niedergangs, oder waren sie dagegen gefeit und voller Energie und Hoffnung auf ihr gemeinsames Leben? Eine pragmatische Art zu planen dürfte Maria nicht fremd gewesen sein. Auch wenn es gewagt ist, nur aus Fotografien auf Personen und ihre Stärken und Schwächen, Abneigungen und Vorlieben zu schließen: Maria wirkt auf den Bildern wie eine Frau, die sich nicht scheut, zuzupacken.
    Wir sind heute an Fotografien sehr gewöhnt, jeder Haushalt hateine Fotokamera, jedes Handy eine Bildfunktion. Es gibt Bilder zu beinahe allem, jedes noch so banale Ereignis ist es wert, als Foto festgehalten zu werden. Passiert irgendwo auf der Welt etwas, gar etwas, das es bis in die Nachrichten schafft, erwarten wir, dass es davon ein Bild gibt. Fotos übernehmen eine Zeugenschaft, manchmal scheint es sogar, als ob sie die Realität ablösten und nicht nur abbildeten. Maria lächelt fröhlich in die Kamera und scheint zu uns zu sprechen. Und doch können wir über sie nur Vermutungen anstellen.
    Maria hatte mit der kleinen Adriana reichlich zu tun. Das Mädchen war kränklich, stets ein wenig zu zart. Viele Säuglinge starben in den ersten Monaten. Die ganze Fürsorge von Maria richtete sich darauf, das Würmchen über die nächsten Monate und Jahre zu retten. Der junge Vater konnte sich andere Abwechslungen gönnen. Dass er gern spielte, meinen wir durch die Fotos zu wissen. Ob er auch Fußball liebte, dafür gibt es keine Belege. Doch hätte er in den Monaten nach Adys Geburt einem großen Ereignis beiwohnen können. Am 23. November 1913 pilgerten die Fußballfans ins Stadion von Antwerpen, zum Länderspiel Belgien gegen Deutschland. Am Ende besiegte der Gastgeber Belgien das deutsche Team mit 6:2, harmlos und sportlich.

Die Freundin Renée
    Monate waren vergangen, als mich überraschend Post aus Antwerpen in der krakeligen Schrift eines alten Menschen erreichte. Ein Päckchen Briefe in Schwester Sonjas Koffer war unterzeichnet mit dem Schriftzug Renée. Auch an sie hatte ich geschrieben, aber lange keine Antwort erhalten. Die Briefe im Koffer waren geheimnisvoll. Begann einer auf Deutsch, wechselte er nach einem Absatz ins Französische und wenig später fuhr die Schreiberin englisch fort. Oder sie begann englisch und endete niederländisch, andere waren durchgehend französisch abgefasst. Alle in der markanten Handschrift von Renée, der Name auf dem Absender lautete allerdingsFrancisca. Hatte diese Briefeschreiberin lediglich mit ihrem Spitznamen unterzeichnet oder barg das Ganze eine ganz andere Bedeutung, einen geheimen Code?
    Noch ist alles Spiel – Firmin als Soldat 1910.
    Die meisten der Briefe stammten aus den 40er- und 50er-Jahren. Die Inhalte waren mehr oder weniger belanglos. Die Schreiberin erkundigte sich nach der Gesundheit von Ady und Jupp, wie sie die Adressaten ansprach, erzählte von ihrer Familie, vom Bruder und einer Theatertruppe und von der vielen Arbeit, die ihre Mutter habe, oder von Kleiderwünschen, die nicht zu erfüllen waren, weil alles zu teuer sei.
    Die alte Dame, deren Briefe ich nun in Händen hielt, war Francisca Huybrechts und sie war jene Renée, die mir schon »im Koffer« begegnet war. Sie schrieb mir, sie sei seit Kurzem 86 Jahre »jung« und entschuldigte sich, dass sie so lange nicht geantwortet hatte. Der Grund dafür ließ mich schaudern. Sie sei, schrieb sie, gerade als sie meine Post erhalten hatte, vor ihrer Haustür überfallen worden. Der Räuber habe ihr die Handtasche entrissen, und »beim Aufschreiben bei der Polizei war man entsetzt, was alles in der
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