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Die Frau aus Flandern - eine Liebe im Dritten Reich

Die Frau aus Flandern - eine Liebe im Dritten Reich

Titel: Die Frau aus Flandern - eine Liebe im Dritten Reich
Autoren: Claudia Seidert
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meinen Teil getan, nun bist Du dran, mach was draus.« Es war ein kleiner brauner Handkoffer aus diesem sehr belastbaren Karton, den man in den schlechten Zeiten als Ersatz verwendete, als Leder zu kostbar war. Ich ließ die Verschlüsse aufklicken und blickte auf einen Wust von Postkarten, Briefen, Dokumenten, Büchern, losen Fotos und einigen Papierrollen. Ganz zu unterst lagen zwei dicke Fotoalben voller Bilder. Ich getraute mich kaum, die Seiten durchzublättern, so vollgestopft waren sie mit Fotografien. Die Sichtung musste auf später vertagt werden.
    Als ich die Schwester fragte, warum sie diese Dinge aufbewahrt hatte, antwortete sie, dass sich nach dem Tod von Adriana Kocyan niemand für die Hinterlassenschaft interessiert hätte. Man handhabte es so wie immer, wenn jemand ohne Nachkommen stirbt. Ein Nachlassverwalter wurde hinzugezogen, er durchsuchte das Zimmer der Verstorbenen nach relevanten Papieren und warf das, was ihm nicht wichtig schien, auf den Fußboden – das kann dann weg. Das ist die normale Vorgehensweise in solch einem Fall, unsentimental und pragmatisch. Der Mann kannte die Tote nicht, er musste dafür sorgen, dass alles nach Recht und Ordnung verlief, und das tat er. Schwester Sonja jedoch erschien das herzlos. Sie klaubte, ohne zu sortieren – nach welchen Kriterien hätte sie es auch tun sollen? –, zusammen, was auf dem Fußboden gelandet war und legte alles in den kleinen braunen Koffer, der ebenfalls der Toten gehört hatte. Denn, so sagte sie mir, »man kann doch einen Menschen nicht einfach wegwerfen!«.

Das Leben im Koffer
    In Todesanzeigen heißt es bisweilen, der Verstorbene lebe in der Erinnerung der Hinterbliebenen weiter. Schwester Sonja hatte mit ihrem entschlossenen Schritt verhindert, dass Adriana Kocyan schnell vergessen wurde. Einige Papiere im Koffer trugen Hakenkreuze und bestätigten, dass die Belgierin sich Ende 1944 in Neusalz aufgehalten hat. Die Stadt an der Oder war kein weißer Fleck auf der nationalsozialistischen Landkarte: Eines der großen Konzentrationslager der Nazis, Groß-Rosen, lag nicht weit entfernt und in Neusalz selbst war eines der Außenlager stationiert. Bis 1945 gehörte die niederschlesische Stadt zum Landkreis Freystadt, in den Regierungsbezirk Liegnitz. Seit Kriegsende liegt sie in Polen und heißt Nowa Sól.
    Was hatte diese belgische Frau mitten im Zweiten Weltkrieg nach Schlesien geführt? War sie von den Nazis zum Arbeitseinsatz im Reich zwangsverpflichtet worden oder gar Gefangene im Lager gewesen? Was wusste ich überhaupt von den Belgiern während des Krieges? Oder war sie freiwillig, weil deutschfreundlich, vielleicht sogar als »Nazisse«, ins Reich gegangen? War sie am Ende Täterin gewesen – eine dieser gewaltbereiten Frauen, die sich als Aufseherinnen vom System legalisiert zum Quälen fühlten? Und wenn ja, was ging das mich an? Wie würde ich damit umgehen, sollte sich dieser Verdacht bestätigen?
    Oder war sie doch Opfer gewesen und unfreiwilig im Reich? Oder wäre es mir nicht viel lieber gewesen, Adrienne/Orianna/Adriana hätte mit dem Holocaust, dem Nationalsozialismus und diesem ganzen braunen Sumpf gar nichts zu tun gehabt und wäre der Liebe wegen nach Osten gegangen? Ganz unpolitisch, einfach nur leben und mit dem, was um sie herum geschah, irgendwie umgehen, so gut es ging?
    Spontan faszinierte mich die Idee der Mata Hari, einer Spionin aus Flandern, die sich souverän unter Nazischergen bewegte und dabei im Auftrag des amerikanischen OSS, des Vorläufers der CIA, agierte. Ein Dokument besagt, Adriana sei 1945 in Weißenburg in Bayern gewesen. Hatte ich nicht kürzlich erst gelesen, J. D. Salinger, der Autor von ›Der Fänger im Roggen‹, sei ebenfalls gleich nachdem Krieg in Weißenburg stationiert gewesen – als Offizier beim Militärgeheimdienst? War das nur Zufall?
    Das Leben im Koffer strahlte Ruhe aus – es war bereits gelebt, und dennoch vibrierte es – alles schien möglich. Das fremde Leben lag vor mir, sperrig, bruchstückhaft und hinreißend. Da waren die Bilder eines hübschen jungen Mädchens, mit den Eltern, als Verliebte, mit Freundinnen und Freunden, unbeschwert, mit einer verheißungsvollen Zukunft. Hatten »wir Deutschen« uns auch an ihr versündigt? Hatten wir Deutschen ihr zu einem Lebenslauf verholfen, den sie unter anderen Umständen nie eingeschlagen hätte? War es wieder eine dieser Geschichten, die ohne die Nationalsozialisten so nie gelebt worden wäre? Dann hatte diese Geschichte
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