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Die folgende Geschichte

Die folgende Geschichte

Titel: Die folgende Geschichte
Autoren: Cees Nooteboom
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ständig Kekse anbieten. Niederländischlehrer – nun, wenn man je einen Vertreter dieses Typs zu zeichnen hätte, so könnte man ihn als Vorlage nehmen. Kindern eine Sprache beizubringen, die sie schon lange vor ihrer Geburt im Echoraum der Gebärmutter gehört haben, den natürlichen Wildwuchs dieser Sprache mit mechanischem Gefasel von Ordnungszahlen, doppelten Pluralformen, trennbaren Verben, prädikativem Gebrauch und Präpositionalverbindungen zu stutzen ist eine Sache, aber auszusehen wie ein schlecht gebratenes Kotelett und von Poesie zu sprechen, das geht zu weit. Und er sprach nicht nur von Poesie, er schrieb auch welche. Alle paar Jahre erschien ein winziges Bändchen mit Berichten aus der lauen Provinz seiner Seele, Zeilen ohne Biß, Wortreihen, die irgendwie zusammenhanglos auf der Seite schwammen. Sollten sie je in Berührung mit auch nur einer einzigen Zeile von Horaz kommen, so würden sie sich auflösen, ohne eine Spur zu hinterlassen.
    Ich setzte mich auf und verspürte das dringende Verlangen, mich selbst zu sehen, nicht dessentwegen, was ich dann zu sehen bekäme, denn mein Äußeres war mir zuwider, und zu Recht. Nein, es ging um die Konfrontation. Ich mußte wissen, welche Version von mir hier in diesem Zimmer von damals war, die heutige oder die damalige. Ich wußte nicht, welche ich schlimmer fände. Ich streckte ein Bein aus dem Bett, ein weißes Altmännerbein. Aber so hatten meine Beine immer ausgesehen, daraus konnte ich nichts schließen. Es blieb nur eine Lösung, der Spiegel im Bad, und dort ging ich jetzt hin, ohne das Zögern, das man nach all den Jahren hätte erwarten können. So, da stand ich nun. Ich weiß nicht, ob es eine Erleichterung war, daß ich wenigstens nicht mein früheres Ich zu sein brauchte und daß derjenige, der da stand, doch mehr oder weniger demjenigen glich, dessen Anblick ich gestern abend ohne allzuviel Erfolg vor meinem Amsterdamer Spiegel vermieden hatte. »Sokrates«, das war mein Spitzname in dem Provinzgymnasium, an dem ich unterrichtet hatte, und das war gut getroffen, denn so sah ich aus. Sokrates ohne Bart und mit Brille, das gleiche klumpige Gesicht, bei dem keiner je an Philosophie denken würde, wenn wir nicht zufällig wüßten, welche Worte diese Specklippen unter der stumpfen Nase mit den breiten Nasenlöchern gesprochen hatten und welche Gedanken hinter dieser Schlägerstirn entstanden waren. Ohne Brille, wie damals, war es noch schlimmer.
    »Jetzt siehst du wirklich wie Sokrates aus«, hatte sie gesagt, nachdem sie mich zum erstenmal gebeten hatte, die Brille abzusetzen. Wenn ich das tue, komme ich mir vor wie eine Schildkröte ohne Schild. Das bedeutet, daß ich in der intimen Nähe eines Frauenkörpers das wehrloseste aller Geschöpfe bin, und das wiederum bedeutet, daß ich mich meist von diesen Aktivitäten ferngehalten habe, die ständig in aller Munde sind und die meiner Meinung nach doch eher zum Tierreich gehören als zu den Menschen, die sich mit den weniger greifbaren Dingen des Daseins befassen, wobei noch hinzukommt, daß gerade dieses Greifen mir in solchen Situationen so schlecht gelang. Es war eher das Grabschen und Krallen eines Blinden, denn wenn ich natürlich auch wußte, wo ungefähr meine Hände hinmußten, so blieb es doch Suchen, denn meine Augen verweigerten entschieden die Mitarbeit, wenn die beiden runden gläsernen Sklaven, meine Brille, nicht in der Nähe waren. Alles, was ich sah, sofern man es überhaupt so nennen konnte, war eine mehr oder weniger rosa Masse mit hier und da, wie es schien, einer komischen Ausstülpung oder einem dunklen Fleck. Was mich noch am meisten ärgerte, ist, daß meine unschuldigen Hände, die mir in solchen, Gott sei Dank seltenen Fällen ja nur helfen wollten, dann gerade der Roheit, Frechheit, Plumpheit bezichtigt wurden, als wären es aus einer Anstalt entflohene Kinderschänder. Doch über die merkwürdigen Details, die die Liebe zwischen menschlichen Wesen mit sich bringt, will ich jetzt nicht sprechen. Wollen wir es dabei bewenden lassen, daß sie sich sehr große Mühe gab. Denn das habe ich immerhin gelernt, wenn Frauen sich etwas in den Kopf gesetzt haben, dann werden Kräfte mobilisiert, gegen die Männer mit all ihrer sogenannten Willenskraft nichts ausrichten können.
    Ich sah mich an. Das gelbe Licht von damals war durch Neon ersetzt worden, was auch dem schönsten Gesicht eine Leichenblässe verleiht. Doch das war es nicht, was ich vor mir sah. Es war eher so, daß ich
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