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Die Fieberkurve

Die Fieberkurve

Titel: Die Fieberkurve
Autoren: Friedrich Glauser
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Schwierigkeiten gerate und die Hilfe der Polizei brauche. Würden Sie dann so freundlich sein und mir beistehen?«
    Studer schlürfte seinen Kaffee und fluchte innerlich über Madelin, der das heiße Getränk allzu ausgiebig mit Rum gewürzt hatte; dann blickte er auf und erwiderte (auch er bediente sich der französischen Sprache):
    »Die Schweizer Polizei beschäftigt sich sonst nicht mit Familienangelegenheiten. Um Ihnen helfen zu können, müßte ich wissen, worum es sich handelt.«
    »Das ist eine lange Geschichte«, sagte Pater Matthias, »und ich wage kaum, sie zu erzählen, denn Sie alle«, seine Hand machte eine kreisförmige Bewegung, »werden mich auslachen.«
    Godofrey protestierte höflich mit seiner Papageienstimme. Er nannte den Mönch »Mein Vater« – »mon père«, was Studer aus unerfindlichen Gründen äußerst komisch fand. Er lachte in seinen Schnurrbart hinein, prustete weiter, während er die wieder gefüllte Tasse zum Munde führte, und ließ das Prusten, um nicht Anstoß zu erregen, in ein Blasen übergehen – so als ob er den heißen Kaffee abkühlen wollte...
    »Haben Sie sich je«, fragte Pater Matthias, »mit Hellsehen beschäftigt?«
    »Kartenlegen? Kristallsehen? Telepathie? Kryptomnesie?« Godofrey leierte die Fragen ab wie eine Litanei.
    »Ich sehe, Sie sind auf dem laufenden. Haben Sie sich viel mit diesen Dingen beschäftigt?«
    Godofrey nickte. Madelin schüttelte sein Haupt und Studer sagte kurz: »Schwindel.«
    Pater Matthias überhörte das Wort. Seine Augen waren in die Ferne gerichtet – aber die Ferne, hier in der kleinen Beize, war der Schanktisch mit seinem glänzenden Perkolator. Der Patron saß dahinter, die Hände über dem Bauch gefaltet und schnarchte. Die vier am Tisch waren seine einzigen Gäste. Das Leben in seiner Beize begann erst gegen zwei Uhr, wenn die ersten Karren mit Treibgemüse eintrafen...
    »Ich möchte«, sagte der Weiße Vater, »Ihnen die Geschichte eines kleinen Propheten erzählen, eines Hellsehers, wenn Sie ihn so nennen wollen, denn dieser Hellseher ist daran schuld, daß ich mich hier befinde, anstatt die kleinen Posten im Süden von Marokko abzuklopfen, um dort für die verlorenen Schäflein der Fremdenlegion Messen zu lesen...
    Wissen Sie, wo Géryville liegt? Vier Stunden hinterm Mond, genauer gesagt in Algerien, auf einem Hochplateau, siebzehnhundert Meter über dem Meeresspiegel, wie es die Inschrift auf einem Stein verkündet, der inmitten des Kasernenhofes steht. Hundertvierzig Kilometer von der nächsten Bahnstation entfernt. Die Luft ist gesund, darum hat mich der Prior dort hinauf geschickt im September vorigen Jahres, denn ich habe schwache Lungen. Es ist eine kleine Stadt, dieses Géryville, wenig Franzosen bewohnen sie, die Bevölkerung besteht zum größten Teil aus Arabern und Spaniolen. Mit den Arabern ist nicht viel anzufangen, sie lassen sich nicht gerne bekehren. Sie schicken ihre Kinder zu mir – das heißt, sie erlauben, daß die Kleinen zu mir kommen... Auch ein Bataillon der Fremdenlegion lag dort oben. Die Legionäre besuchten mich manchmal; mein Vorgänger hatte eine Bibliothek angelegt – und da kamen sie denn: Korporäle, Sergeanten, hin und wieder auch ein Gemeiner, schleppten Bücher fort oder rauchten meinen Tabak. Manchmal empfand einer meiner Besucher das Bedürfnis zu beichten... Es gehen seltsame Dinge vor in den Seelen dieser Menschen, ergreifende Bekehrungen, von denen jene keine Ahnung haben, welche die Legion für den Abschaum der Menschheit halten.
    Gut... Kommt da eines Abends ein Korporal zu mir, der kleiner ist als ich; sein Gesicht gleicht dem eines verkrüppelten Kindes, traurig und alt ist es... Er heiße Collani, stockt und beginnt dann fieberhaft zu sprechen. Es ist keine regelrechte kirchliche Beichte, die der Mann ablegt. Einen Monolog hält er eher, ein Selbstgespräch. Allerlei muß er sich von der Seele reden, was nicht zu meiner Geschichte gehört. Er spricht ziemlich lang, eine halbe Stunde etwa. Es ist Abend und eine grünliche Dämmerung füllt das Zimmer; sie kommt vom dortigen Herbsthimmel, der hat manchmal so merkwürdige Farben...«
    Studer hatte die Wange auf die Hand gestützt und so gespannt lauschte er der Erzählung, daß er gar nicht merkte, wie er sein linkes Auge arg verzog: schief sah es aus und geschlitzt, wie das eines Chinesen...
    Das Hochplateau!... Die weiten Ebenen!... Das grüne Abendlicht!... Der Soldat, der beichtet!...
    Es war doch etwas ganz anderes als das, was
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