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Die fetten Jahre

Die fetten Jahre

Titel: Die fetten Jahre
Autoren: Koonchung Chan
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entlang und war schon fast in Wudaokou angelangt, als ich stutzte. Über einem wenig ansprechend dekorierten Ladeneingang prangte der Schriftzug Fünf Aromen. Ohne Zusatz wie Restaurant, Westliche Küche, Club oder Ähnliches. Ich starrte das Schild einen Moment lang ratlos an, dann trat ich ein.
    Die Inneneinrichtung war ebenso geschmacklos wie der Eingang, mit ein paar einfachen Tischen und Stühlen von der billigsten Sorte, dazu eine kleine Bühne, auf der gerade so eine vierköpfige Band Platz gehabt hätte. Der Raum war menschenleer, aber aus einem Hinterzimmer drang laut und deutlich eine mir vertraute Stimme. Ich schob den Türvorhang zur Seite und rief: »Madame Song!«
    Xiaoxis Mutter erkannte mich auf Anhieb: »Chen!«
    »Wollte mal sehen, wie es Ihnen so geht!«, behauptete ich scheinheilig.
    »Wie schön, dich zu sehen!«, rief sie. »Was für ein seltener Gast!«
    Sie griff eine ungekühlte Flasche Yanjing-Bier und schob mich hinaus zu einem Tisch im Gastraum. »Ich freue mich so, dass du gekommen bist, Chen. Hab mich schon gefragt, was wohl aus dir geworden ist.«
    Ich schämte mich ein wenig. In all den Jahren seit meinem Umzug nach Peking war es mir nie in den Sinn gekommen, einmal nach der alten Dame zu sehen. »Ich habe neulich Xiaoxi getroffen«, sagte ich.
    Madame Song senkte mit einem Mal die Stimme: »Bitte, bring du sie doch wieder zur Vernunft!«
    »Ach, wir sind uns nur zufällig bei SDX über den Weg gelaufen. Kommt sie heute noch vorbei?«, fragte ich, ihre Bitte ignorierend.
    »Sicher nicht.«
    »Haben Sie vielleicht ihre Handynummer? Ich würde sie gerne mal anrufen.« Ihre Nummer war alles, was mich interessierte.
    »Sie hat kein Handy.« Madame Song sah die ganze Zeit besorgt nach draußen. »Aber sie schreibt viele Mails und streitet sich den ganzen Tag im Internet mit irgendwelchen Leuten, deshalb wechselt sie ständig ihre Mailadresse. Bitte, bring du sie wieder zur Vernunft!«
    Besser eine Mailadresse als gar nichts, dachte ich mir.
    Madame Song stand auf: »Ich geh schnell und suche ihre neue Adresse heraus.«
    »Ach, das eilt doch nicht!«, heuchelte ich.
    »Lieber jetzt gleich, eh ich es vergesse«, sagte sie und verschwand eilig im Hinterzimmer.
    Wie herzlich sie doch war, dachte ich, wirklich noch vom alten Schlag.
    In diesem Moment betrat ein junger Mann das Lokal, hoch gewachsen und ausgesprochen gut aussehend, einer von der Sorte, der den Mädchen reihenweise den Kopf verdreht. Und sportlich war er obendrein. Seine knöchelhohen weißen Turnschuhe fielen mir besonders ins Auge; in ganz Peking gab es kaum Männer, die weiße Turnschuhe trugen. Er musterte mich neugierig. Sein Blick verriet großes Selbstvertrauen. »Guten Tag«, grüßte er höflich. »Sie sind …?«
    »Ich … Ein alter Bekannter von Madame Song.« Plötzlich be­griff ich: »Und du bist …« … Xiaoxis Sohn, wollte ich sagen, aber aus einem unerklärlichen Grund zögerte ich, es auszusprechen.
    »Hallo Großmutter!«, begrüßte der junge Mann Madame Song, die gerade aus dem Hinterzimmer zurückkam.
    »Ah, du bist es! Herr Chen – mein Enkel«, stellte sie uns vor.
    Ich tat überrascht: »Ihr Enkel?«
    »Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich heiße Wei Guo.«
    »Die Freude ist ganz meinerseits! Zu so einem Nachwuchs kann man nur gratulieren!« Wir schüttelten einander die Hand. Vor über zehn Jahren mussten wir uns schon einmal begegnet sein. Xiaoxi hatte damals erwähnt, dass er ihren Nachnamen trug.
    »Herr Chen kommt aus Taiwan, er ist einer unserer alten Stammgäste«, erklärte Madame Song. Ihre Wortwahl schmeichelte mir.
    »Ich glaube, ich habe Sie hier noch nie gesehen«, sagte Wei Guo, an mich gewandt.
    »Das war noch im alten Lokal«, erläuterte Madame Song, »Herr Chen war lange nicht mehr in der Stadt.«
    »Nun ja – ich wohne jetzt in Peking«, sagte ich. Sicher wunderte sie sich, warum ich mich dann seit Jahren nicht mehr hatte blicken lassen.
    Anstatt mich zu fragen, wie lange ich nun schon hier lebte oder in welchem Stadtteil ich wohnte, wollte Wei Guo gleich wissen, was ich beruflich machte.
    »Ich bin Schriftsteller.«
    »Was schreiben Sie denn?« Sein Interesse an mir schien zu wachsen.
    »Alles Mögliche. Romane, Kritiken …«
    »Was kritisieren Sie denn so?«
    »Essen, Trinken und sonstige Unterhaltung, Kultur und Medien, Unternehmensführung …«
    »Was halten Sie von der gegenwärtigen Situation in China?«
    »Bleiben Sie doch zum Abendessen!«, schlug Madame Song vor.
    »Das
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