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Die fetten Jahre

Die fetten Jahre

Titel: Die fetten Jahre
Autoren: Koonchung Chan
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entfallen. Ich ging weiter an den Regalen entlang, in der vagen Hoffnung, dass er mir vielleicht wieder einfallen würde, wenn ich das Buch sah. Ich hatte die Philosophie-Sektion hinter mir gelassen und war gerade in Richtung der Bereiche Politik und Geschichte abgebogen, als mich mit einem Mal akute Beklemmung überkam. War vielleicht die Luft hier unten daran schuld?
    Ich ging schnellen Schrittes zur Treppe zurück und schlängelte mich zwischen den lesenden Jugendlichen hindurch nach oben, vorsichtig darauf bedacht, niemanden anzurempeln. Plötzlich packte mich jemand am Hosenbein. Völlig perplex schaute ich nach unten, wo mich ein starrer Blick traf. Die Hand, die mich gepackt hatte, gehörte zu keinem der Jugendlichen, sondern zu einer Frau mittleren Alters.
    »Chen!«, sagte sie, mich unverwandt ansehend.
    »Xiaoxi?«, fragte ich. Sie ist ganz schön gealtert, ging es mir durch den Kopf; viel mehr graue Haare als noch vor ein paar Jahren, als wir uns das letzte Mal gesehen hatten.
    »Ich hab dich runtergehen sehen, war mir aber nicht sicher, ob du es wirklich bist!« Es hörte sich an, als wäre die Begegnung mit mir ein überaus bedeutendes Ereignis.
    »Warst du nicht beim Dushu-Empfang?«, fragte ich.
    »Nein, ich … ich hab gerade erst davon erfahren … Hast du ein wenig Zeit?« Sie sah mich flehentlich an, so als wäre meine Antwort ihre letzte Hoffnung.
    »Ja, sicher. Komm, ich lade dich auf einen Kaffee ein!«
    Sie zögerte einen Moment, dann sagte sie: »Lass uns einfach ein Stück zusammen gehen«, und ließ endlich mein Hosenbein los.
    Wir verließen den Buchladen und spazierten in Richtung des Kunstmuseums. Ich ging neben ihr her und wartete darauf, dass sie etwas sagte. Als sie weiter schwieg, ergriff ich schließlich die Initiative:
    »Wie geht es Madame Song?«
    »Gut.«
    »Sie muss inzwischen an die achtzig sein.«
    »Mhm.«
    »Und deinem Sohn?«
    »Mhm?«
    »Wie alt ist er jetzt?«
    »Über zwanzig.«
    »Tatsächlich?«
    »Mhm.«
    »Studiert er noch oder arbeitet er etwa schon?«
    »Er studiert noch. Aber lass uns nicht von ihm reden.«
    Ich stutzte, erinnerte ich mich doch noch genau daran, wie sehr sie ihren Sohn früher vergöttert hatte. »Wie wäre es mit einem Kaffee im Prime Hotel?«, fragte ich.
    »Gehen wir lieber einfach hier hinein.«
    Wir betraten den kleinen Park neben dem Museum.
    Sie blieb stehen und fragte mich: »Chen, spürst du es?« Sichtlich gespannt wartete sie auf meine Antwort.
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, vermutete aber, dass ein aufrichtiges »Was denn?« wohl nicht angebracht war. Die Frage schien eine Art Test zu sein, wie die nach einem geheimen Code. Wenn ich etwas Falsches sagte, würde sie mir ihr Herz nicht öffnen. Als Schriftsteller hörte ich gerne, was die Menschen auf dem Herzen hatten. Und als Mann verlangte es mich danach, dass Xiaoxi sich mir anvertraute.
    Ich druckste gekonnt eine Weile herum, bis sie schließlich herausplatzte: »Es lässt sich nur schwer in Worte fassen, nicht wahr?«
    Ich nickte vorsichtig. Mir war es schon oft passiert, dass mich jemand nach meinen Eindruck von einem Kunstwerk oder Konzert fragte, das bei mir keinerlei Emotionen freigesetzt hatte. Ich hasste dieses Gefühl des Kein-Gefühl-Habens; durch langjähriges Training war ich jedoch ziemlich gut darin geworden, mich mit Herumgedruckse durchzumogeln.
    »Ich freue mich so, dass du es auch spürst!«, fuhr sie fort. »Als ich dich ins Untergeschoss gehen sah, da wusste ich: Chen nimmt es sicher auch wahr. Also habe ich auf der Treppe auf dich gewartet.«
    Allem Anschein nach war ich in Xiaoxis Augen ein überaus gebildeter und verständnisvoller Mann. Es freute mich, wenn ich bei anderen diesen Eindruck erweckte.
    Ich deutete auf eine Parkbank: »Komm, setzen wir uns doch eine Weile.«
    Ein guter Vorschlag. Sie schien sich zu entspannen, schloss die Augen und seufzte: »Endlich, endlich.«
    Sie war einmal genau der Typ Frau gewesen, der mich anzog. Die Konturen ihres Gesichts und die Rundungen ihres Körpers waren unverändert, trotz der langen Zeit, die wir uns nicht gesehen hatten. Ihre Haut hingegen war gealtert, sie hatte viele neue Fältchen im Gesicht. Und ihr Haar hatte eine Färbung nötig, man sah schon eine Menge weißer Strähnen. Das alles ließ sie ein wenig melancholisch wirken.
    Sie hielt ihre Augen geschlossen, als wolle sie sich ausruhen. Versonnen sah ich sie an. Mir wurde plötzlich klar, dass ich noch immer etwas für diese Frau empfand. Ich
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