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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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die Unterschiede zwischen der Gegenwart und meinen stummen, frühen Kindertagen umso stärker. Niemand, der mich heutzutage über diese römische Piazza gehen sieht und bemerkt, wie ich hier und da stehen bleibe, einen Anwohner grüße und mich unterhalte, wird vermuten, dass derselbe Mensch als Kind kein einziges Wort gesprochen und vor jedem Gang ins Freie erhebliche Angst ausgestanden hat.
    Diese Angst war nur dann etwas schwächer, wenn ich zusammen mit dem Vater hinausging. Manchmal sagte er am frühen Abend Wir machen jetzt einen Spaziergang , und dann gingen wir die Treppe hinab, bis in den Keller, wo der kleine Roller stand, den ich während der Spaziergänge mit ihm benutzen durfte. Da ich sehr genau darauf achtete, was man zu mir sagte und was man sonst in meiner näheren Umgebung noch alles so redete, fiel mir auf, dass der Vater mich niemals fragte, ob wir zusammen einen Spaziergang machen wollten, sondern immer so tat, als stünde von vornherein fest, dass wir einen machten.
    Die meisten anderen Kinder wurden unaufhörlich etwas gefragt, Möchtest Du ein Eis?, Hast Du nasse Füße?, Warum hast Du das getan?, ich aber wurde das nie, höchstens aus Versehen in einem Kaufladen, wenn die Verkäuferinnen mich fragten, ob ich eine Scheibe Wurst wolle, und dann, wenn ich mich nicht rührte, die Frage rasch wieder zurücknahmen und sagten: Ach Gott, er kann uns ja gar nicht verstehen!
    Jedes Mal ärgerte ich mich über eine so blöde Bemerkung und begriff nicht, warum sie bloß annahmen, ich könne sie nicht verstehen, denn natürlich verstand ich sie sehr genau. Manche Verkäuferinnen und auch einige Menschen in unserer Nachbarschaft glaubten aber fest, ich verstünde sie nicht, ja sie taten, wenn sie einmal begriffen hatten, dass ich stumm war und nur sehr verhalten reagierte, sogar so, als wäre ich mit dieser Auskunft für sie gestorben. So etwas bemerkte ich schnell, ich merkte es daran, dass sie mich gar nicht mehr oder nur noch sehr flüchtig anschauten, es war, als existierte ich nicht mehr, sondern stünde nur noch herum wie ein Phantom, das sich irgendwann ganz in Luft auflösen würde.
    Mein Vater wäre der einzige Mensch gewesen, der gegen dieses Verhalten etwas hätte tun können, aber er redete nicht mit anderen Menschen über mein Schweigen. Ich glaube nicht, dass es ihm peinlich gewesen wäre, das zu tun, nein, das war es nicht, ich glaube vielmehr, dass er der Meinung war, die dunkle Geschichte unserer kleinen Familie gehe die anderen Menschen nichts an. Außerdem konnte man von meinem Schweigen nicht erzählen, ohne auch vom Schweigen meiner Mutter zu erzählen, das eine existierte nicht ohne das andere – und deswegen war alles Erzählen sehr schwierig, vielleicht war auch das ein Grund dafür, dass mein Vater es erst gar nicht versuchte.
     
    Jedenfalls machten wir uns, wie schon gesagt, oft am frühen Abend zu zweit auf den Weg, und Vater sagte dann, ohne mich zu fragen, nur: Jetzt gehen wir in die Wirtschaft oder Jetzt holen wir uns eine Zeitung. Ich habe auch in meinem späteren Leben kaum einen Menschen gekannt, der ein so großer Zeitungen- und Zeitschriften-Liebhaber war wie er, beinahe jeden Tag kaufte er welche an dem kleinen Kiosk direkt neben der Kirche, in die wir an fast jedem Sonntag zu dritt in den Gottesdienst gingen. Mit dem Kioskbesitzer verstand er sich gut, ja er lauerte richtiggehend darauf, dass er ihn für seine Auswahl der Zeitschriften lobte und Perfekt! Eine perfekte Wahl! sagte.
    Ich aber freute mich, dass er bei diesen Einkäufen nicht nur an sich selbst, sondern immer auch an mich dachte. So legte der Zeitschriftenhändler auch mir ganz selbstverständlich einige Zeitschriften zur Auswahl hin, und ich blätterte in ihnen wie Vater in den seinigen, bis ich mich für eine entschied. Der Zeitschriftenhändler war denn auch einer der wenigen Menschen in unserer Umgebung, der mich nicht anders behandelte als die anderen Kunden. Schwungvoll kommentierte er meine Wahl, indem er sich selbst fragte, warum ich gerade diese und nicht eine andere Zeitschrift ausgewählt hatte, und trocken und knapp beantwortete er seine eigenen Fragen, indem er zwei oder drei Gründe aufzählte.
    Das, fand ich damals, war genau die richtige Art, mit meinem Stummsein umzugehen, denn der Zeitschriftenhändler beachtete es nicht weiter und erwähnte es nie, sondern tat so, als wäre es etwas so Vorübergehendes wie eine Krankheit, die ich irgendwann wieder los sein würde. Es war, als wäre ich
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