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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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tat ich, wenn ich mich von irgendjemandem angegriffen, verhöhnt oder verspottet fühlte, einfach so, als gäbe es den Angreifer nicht. Ich schaute weg, beschäftigte mich mit etwas anderem und ging nicht auf die Attacken ein, obwohl es doch viel gesünder gewesen wäre, sich zur Wehr zu setzen und auf die Angriffe etwas zu erwidern. Insgeheim brodelte es in mir weiter, und innerlich war ich unruhig oder sogar völlig durcheinander, während ich nach außen den Eindruck eines gefassten, in sich ruhenden und durch nichts zu erschütternden Menschen machte. Meist erinnerte dieses seltsame, eine tiefe Ruhe ausstrahlende Wesen sich dann an bestimmte Szenen der Kindheit, es waren stille Szenen am Rhein, und fast immer half die Erinnerung wahrhaftig, mit allem Unangenehmen fertig zu werden.
     
    In der Zeit nämlich, in der Mutter und ich darauf warten mussten, dass die von uns bestellten Waren in den Einkaufsläden zusammengestellt und verpackt wurden, gingen wir meist hinunter zum Fluss. Es waren nur ein paar Minuten bis zu seinem Ufer, und ich wusste, dass Mutter dorthin am liebsten ging, weil wir beide dort allein waren und niemand uns weiter anredete oder befragte.
    Am Rhein setzte sie sich immer auf dieselbe Bank, es war unsere gemeinsame Bank, es war die Bank, von der Mutter und ich stillschweigend glaubten, dass sie nur uns beiden gehörte, niemand sonst noch sollte dort Platz nehmen, und wenn doch jemand dort saß, gingen wir so lange am Ufer des Flusses auf und ab, bis die Bank wieder frei war. Dann holte Mutter ein Buch aus ihrer Tasche und begann zu lesen, während ich am Ufer des Flusses spielen durfte, natürlich nicht unten, direkt am Ufer, sondern etwas oberhalb, auf dem Spazierweg, von dem aus die schmalen, meist feuchten Treppchen hinunter zum Wasser führten, die ich niemals betreten durfte.
    In jedem Fall aber musste Mutter mich sehen und im Auge behalten können, das war sehr wichtig, ich durfte Mutters Gesichtskreis auf keinen Fall je verlassen, deshalb spielte ich ganz in ihrer Nähe, nur einige Schritte von ihr entfernt, während sich unterhalb der breite Fluss als eine große Gefahrenquelle auftat. Zwischen der Gefahrenquelle des Flusses und der Bank, auf der Mutter saß, durfte ich mich aufhalten, das genau war mein kleines Gelände, dieser schmale Streifen gehörte mir und stand mir zu, keinen Schritt darüber hinaus durfte ich machen, ohne dass Mutter aufgestanden und mich mit sanfter Gewalt wieder zurückgezogen hätte in das begrenzte Gebiet, das sie überblickte.
     
    Es kam aber kaum vor, dass ich dieses Gebiet verließ, längst hielt ich die Grenzen instinktiv ein, wie ich überhaupt sehr genau wusste, wo und wie ich mich während des Tages in Mutters Nähe aufhalten durfte. Mutter war der Mittelpunkt von allem um mich herum, den Mittelpunkt durfte ich nie aus den Augen verlieren, ja noch mehr, ich durfte auch die körperliche Verbindung zu Mutter niemals abreißen lassen, um keinen Preis, denn ein solches Abreißen der Verbindung spürte sie sofort und geriet darüber in eine solche Aufregung, dass sie manchmal Tränen in die Augen bekam.
    Es gibt nichts Schrecklicheres und Furchtbareres als das Bild einer in Panik geratenen Mutter, deshalb tat ich damals alles, aber auch alles, um sie nicht zu beunruhigen oder zu erschrecken. Die körperliche Verbindung mit ihr nicht abreißen zu lassen, das bedeutete, dass ich in ihrer unmittelbaren Nähe bleiben und dann und wann zu ihr hingehen musste, um sie zu berühren oder darauf zu warten, dass ich von ihr berührt wurde. Manchmal las sie dabei weiter in einem Buch und strich mir wie geistesabwesend mit einer Hand über den Kopf, als fühlte sie nach, ob ich noch da sei, dann hielt ich still und schlich mich erst wieder davon, wenn sie ihre Hand wieder zurückzog. Selten kam es dagegen vor, dass sie mich umarmte oder mir gar einen Kuss gab, die heftige Umarmung und der Kuss waren vielmehr die Sache meines Vaters, während Mutter mich meist nur leichthin oder flüchtig, dafür aber viele Minuten lang hintereinander berührte, im Grunde erstreckten sich diese leichten Berührungen ja über den ganzen Tag.
     
    Am einfachsten war es deshalb, wenn ich mich neben sie auf die Bank setzte, die Beine baumeln ließ und auf den Fluss schaute. Dann hielt sie während ihrer Lektüre oft meine Hand, und ich wurde dann vollkommen ruhig, weil ich genau spürte, dass auch meine Mutter nun ruhig und vollkommen aufgehoben war in dem, was sie las. Meist hatte ich
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