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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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vernichtete, denn auf den meisten war ja nur notiert, was er als Nächstes zu tun oder welche Sachen er noch zu besorgen habe, bestimmte Einkäufe standen an und waren dringend zu erledigen, es waren Einkäufe in jenen Läden rings um den großen, ovalen Platz, die von Mutter aus irgendwelchen Gründen niemals betreten wurden. In solche Läden ging Vater, nachdem er am späten Nachmittag von der Arbeit nach Hause zurückgekehrt war, immer allein, während ich Mutter, wenn sie alle paar Vormittage ihre eigenen Einkaufsrunden drehte, auf ihren Wegen begleiten durfte.
     
    Ich lief meist dicht neben ihr her, oder ich hielt sogar ihre Hand, und dann betraten wir gemeinsam einen Laden, wo Mutter eine kleine Liste abgab, auf der all die Waren notiert waren, die für sie zusammengestellt werden sollten und die wir dann später abholen würden. Nach der Abgabe der Liste gingen wir, so schnell es ging, wieder hinaus und eilten dann weiter in das nächste Geschäft, um dort erneut eine Liste mit Bestellungen abzugeben, das alles geschah unglaublich rasch, weil Mutter sich niemals lange in den Läden aufhalten und anreden lassen wollte.
    Natürlich war es vergebens, sie anzureden oder sie etwas zu fragen, denn Mutter war ja stumm und konnte nicht antworten, alle Verkäuferinnen wussten das, in jedem Laden, den wir gemeinsam betraten, war es bekannt, und doch wurde Mutter immer wieder etwas gefragt und auch direkt angeredet, meist reagierte sie nicht darauf oder schüttelte nur kurz den Kopf, um dann schnell zu bezahlen und sich mit mir aus dem Staub zu machen.
    Für mich waren diese kurzen und hastigen Auftritte in all diesen Läden sehr unangenehm, am liebsten hätte ich draußen, vor der Tür, auf Mutter gewartet und mir die Wartezeit mit Spielen vertrieben. Das aber kam überhaupt nicht in Frage, Mutter hätte mich niemals draußen, vor einem Geschäft, allein zurückgelassen, immer musste ich in unmittelbarer Reichweite zur Stelle sein, so dass wir überall, wo wir hinkamen, wirklich den Eindruck eines fest aneinandergeketteten Paars machten.
    Manchmal glaubte ich zu bemerken, dass man dieses Paar bemitleidete oder sogar belächelte, mit uns stimmte ja so einiges nicht, wir waren nicht nur beide stumm, sondern anscheinend auch aufeinander angewiesen, keiner von uns beiden verließ das Haus ohne den anderen und die ganzen Einkaufswege über hielten wir uns an der Hand oder gingen so dicht nebeneinander her, als wäre der eine der Schatten des anderen.
    Niemals hätte ich es denn auch fertiggebracht, einfach einmal ein paar Schritte oder Sprünge zur Seite zu machen, so einen Übermut kannte ich nicht, man hätte mich deshalb für übertrieben gehorsam oder brav halten können, ich selbst hielt mich aber nicht dafür, sondern einfach nur für ein Kind, das sehr anders war als die anderen Kinder. In mir steckte trotz meiner fünf Jahre noch viel von einem Kleinkind, das weit hinter seinen fünf Jahren zurückgeblieben war und doch gleichzeitig auch schon etwas von einem Erwachsenen hatte, denn meine Rolle an Mutters Seite war eben manchmal auch die Rolle eines Beschützers, der Mutters merkwürdige Verhaltensweisen genau kannte und ihr half, trotz dieser Verhaltensweisen einigermaßen in der Welt zurechtzukommen.
    Wenn uns dabei Mitleid oder sogar offener Spott begegneten, empfand ich mich als sehr hilflos, ich konnte darauf ja nicht antworten, hatte aber das Gefühl, unbedingt antworten und manchmal sogar laut schreien zu müssen, ach, wie gern hätte ich mich zur Wehr gesetzt und es all den Spöttern gezeigt, aber ich konnte es nicht, nicht einmal eine Grimasse zog ich, ich reagierte überhaupt nicht, sondern tat, als sähe und hörte ich all die dummen und oft auch beleidigenden Bemerkungen nicht. Abtauchen, sich taub stellen, irgendwo anders hinschauen – das waren meine einzigen Reaktionen, ich nahm mich so sehr zusammen, dass ich die Anstrengung körperlich spürte, nicht das Geringste sollte man mir anmerken. Erst wenn ich Stunden später einmal allein war und unsere Peiniger nicht mehr vor mir hatte, ließ ich meine Wut heraus, heimlich und noch immer viel zu zurückhaltend erlaubte ich mir, wenn ich mich unbeobachtet fühlte, einen solchen Ausbruch, denn natürlich durfte Mutter nicht mitbekommen, wie sehr mich das alles getroffen und verletzt hatte.
     
    Immer wieder habe ich dann auch in späteren Jahren damit gehadert, dass sich solche Verhaltensmuster wiederholten und nicht verändern ließen, denn auch später
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