Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
Vom Netzwerk:
es eine geheime Vorschrift oder sogar ein Gesetz gegeben, dass alles genau so und nicht anders abzulaufen hatte. Wie Darsteller in einem Stück waren wir drei aufeinander bezogen, beinahe jeden Tag handelten wir in derselben Weise, und niemand von uns störte sich an dieser Wiederholung, sondern tat im Gegenteil alles dafür, dass alles so blieb.
    Heute weiß ich, dass uns die Wiederholung beruhigte und dass sie unser merkwürdiges und gewiss nicht einfaches Leben ordnete. Jeder hatte seine Rolle und hielt sich genau daran, das gab uns eine kurzfristige Sicherheit und band uns eng aneinander. Wir drei waren sogar so eng miteinander verbunden, dass jeder von uns sofort in Panik geriet, wenn unsere Rituale durch irgendeine Kleinigkeit durcheinandergerieten. Meist kamen sie durch Einwirkungen von außen durcheinander, und meist taten wir dann beinahe zwanghaft und hektisch alles, um Störenfriede zu vertreiben oder auf andere Weise aus unserem Kreis zu verdrängen.
    So war die Welt der Kleinfamilie Catt damals, in den frühen fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, auf eine beinahe unheimliche Weise geschlossen, und jeder von uns wachte mit all seinen Sinnen darüber, dass sich daran nichts änderte.

2
     
    ALLE ZETTEL, die Vater in der Küche vorlas, waren gleich, gleich groß und gleichfarbig, sie hatten rundherum einen grünen Rand, und sie wurden von Notizblöcken abgerissen, von denen Vater alle paar Wochen einen kleinen Stapel in dem nahe gelegenen Schreibwaren- und Buchladen kaufte.
    Mutter beschrieb jeden Zettel sehr ordentlich, niemals verrutschten die Zeilen, und nur selten war etwas durchgestrichen oder verbessert, Mutter schrieb schön. Klar und deutlich waren die etwas verschnörkelten Buchstaben zu erkennen, ich konnte sie zwar noch nicht lesen, dafür war ich mit meinen fünf Jahren noch viel zu jung, aber ich betrachtete sie oft, weil die gleichmäßigen und geordneten Schriftzüge den beruhigenden Eindruck erweckten, Mutter wisse ganz genau, was sie schreiben und sagen wolle. Kurz bevor Vater mit der lauten Lektüre begann, befiel mich oft ein leichtes Kribbeln und ein Gefühl von Spannung, ja, ich war sehr gespannt darauf, was ich nun endlich an diesem Höhepunkt eines jeden Tages zu hören bekam. Als wolle er die Feierlichkeit des Moments unterstreichen, machte Vater überall Licht, räumte den großen Tisch frei und pulte das Gummiband von den Zetteln herunter.
    Sie waren nach der Reihenfolge ihres Entstehens geordnet, denn Mutter sammelte sie während eines Tages und schichtete sie dann aufeinander, nur ganz selten blieb einer der vielen Zettel aus Versehen irgendwo liegen und wurde dann später gefunden, Mutter mochte das nicht, sie wollte unbedingt, dass die Zettel am Nachmittag, wenn Vater aus seinem Büro oder von der Arbeit im Freien zurückkam, alle beisammen waren. Wenn er sie zur Hand nahm, setzte sie sich dicht neben ihn, während ich mich auf das schmale Ecksofa legte und zuhörte.
    Den Text der meisten Zettel las Vater laut vor, einige wenige andere aber las er auch im Stillen und legte sie dann beiseite, ich verstand lange Zeit nicht, warum er das tat. Manchmal vermutete ich, dass auf einigen etwas stand, das nur für ihn bestimmt war und nicht für mich, aber ich konnte es nicht beweisen, und fragen konnte ich Vater ja auch nicht.
    Die nicht vorgelesenen und beiseite gelegten Zettel beunruhigten mich jedenfalls sehr, manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie geheime, wichtige Botschaften enthielten, am schlimmsten aber war es, wenn Vater mich nach der stummen Lektüre eines solchen Zettels kurz anschaute, denn dann wusste ich, dass Mutter auf dem fraglichen Zettel etwas notiert hatte, das mich betraf.
    Deshalb sehnte ich mich damals nach kaum etwas so sehr wie danach, die nicht laut vorgelesenen Zettel einmal lesen zu können, ich wusste aber nicht, ob das jemals möglich sein würde, denn nachdem Vater die Zettel vorgelesen hatte, nahm er sie an sich, er steckte sie wieder in seine Hosentasche oder ließ sie in das vordere Fach seiner braunen Aktentasche gleiten und damit waren sie dann ein- für allemal verschwunden, scheinbar endgültig, wie weggezaubert.
     
    Ich wusste nicht, ob Vater die Zettel irgendwo aufbewahrte oder ob er sie nach der Lektüre einfach wegwarf oder verbrannte, ich hatte nicht die geringste Ahnung, sondern konnte nur feststellen, dass die einmal vorgelesenen Zettel nirgends mehr auftauchten. Meist beruhigte ich mich mit der Vermutung, dass Vater sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher