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Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)

Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Oliver Becker
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hoch.
    Als die Reiter wieder im Sattel saßen, erwuchs hinter ihnen eine Wand aus grellem Feuer; die Flammen verbissen sich bereits in den Bäumen und Sträuchern. Keiner von ihnen drehte sich um. Sie waren von der Sicherheit erfüllt, dass ihre Suche bald ein Ende haben würde. Es konnte nicht mehr allzu lange dauern. Das Netz zog sich zu. Endlich würden sie denjenigen finden, hinter dem sie so unentwegt und unaufhaltsam her waren. Und dann würde Blut fließen.
     
    *
     
    Die zerrissenen grauen Wolken erinnerten an Trauerschleier und ließen die Frau unwillkürlich an den Tod denken. Sie ging weiter, langsam, und sie spürte, wie der Schatten der Scheune auf sie fiel, jene Scheune, in der sich die größte Tragödie ihres Lebens abgespielt hatte. Die Luft war erfüllt von klebriger Hitze, Insekten summten. Die Wolken vermochten nicht, die Kraft der Sonne zu brechen, es duftete nach Gras, das üppig und saftig war.
    Der Frau gelang es nicht, ihre düsteren Gedanken zu verscheuchen, die jedes Mal so urplötzlich kamen, als schlichen sie sich heimtückisch an wie ein Feind. Die Nähe zur Scheune wirkte noch gewaltiger, geradezu lähmend, und sie gab auf, stellte den Eimer, den sie am Brunnen mit Wasser füllen wollte, auf der festen Schwarzwalderde ab, die ihr so vertraut war wie die eigene Haut.
    Das offene Tor der Scheune, die Gerüche der Heuballen und des Viehs, das sich gerade auf der Weide befand, die Dunkelheit jenes einfachen, zweckdienlichen Gebäudes. Es war, wie es immer war, wenn die Frau nicht achtgab und sich nicht wappnete gegen den unbarmherzigen Schmerz, der sofort an ihrem Herzen zu zerren begann.
    Sie ging zu einer Ecke der Scheune, unfähig, sich zu wehren gegen diese erdrückende Kraft, die von jener Stelle ausging. Ihre sonst so vollen Lippen bildeten einen schmalen Strich, der zeigte, wie sehr sie gegen die Tränen ankämpfte.
    Hier traf der Verlust Bernina am stärksten, stärker noch als bei den Besuchen am Grab nach dem sonntäglichen Kirchgang, an jenem erschütternd kleinen Grab am Rande des Friedhofes. Diese Stelle war eine offene Wunde in Berninas Leben, eine klaffende Wunde, aus der unablässig Blut und Lebensmut sickerten. Sie ging in die Knie, rang weiter mit den Tränen, den Blick auf das Heu gerichtet, das ebenso bleich und leblos war wie das Kind, das vor drei Jahren hier gelegen hatte.
    Ihre Lippen bebten, doch erneut besiegte sie die Tränen, diesmal, indem sie leise, fast tonlos zu beten begann, ein Credo, ein Paternoster, ein Agnus Dei, aber als sie mit dem Ave Maria einsetzen wollte, verebbten die Worte, die ihr doch kein Trost waren, aus denen sie keinerlei Kraft schöpfen konnte. Sie holte Luft, atmete tief ein. Die Kraft würde von woanders kommen müssen – aus jener für sie typischen Stärke, die allerdings nicht immer in ihr gewohnt hatte, die sie sich hatte aneignen müssen, durch ein Leben, in dem es viele dramatische Momente gegeben hatte. Nein, die Gebete halfen nicht, hatten es noch nie getan. Die feste Umklammerung des Leides blieb auch dann, als sich Bernina wieder auf die Beine stemmte, jetzt jedoch erfüllt von einem Gefühl des Trotzes, sich nicht von der Trauer unterkriegen zu lassen.
    Sie drehte dem Heu den Rücken zu und ließ die Scheune hinter sich. Als sie nach dem Eimer griff, schien sie sich besser in der Gewalt zu haben. Wie sagte Nils so oft? Der Schmerz ist ein hinterhältiger Gegner. Ja, der Schmerz würde immer wieder unerwartet zuschlagen. Also hieß es, auf ihn vorbereitet zu sein und nicht so zu tun, als gäbe es ihn nicht. Wie sagte Nils noch? Zusammen werden wir ihn besiegen. Irgendwann, eines Tages.
    Ja, Nils Norby, ihr Mann, der Schwede mit der kriegerischen, in Nebel gehüllten Vergangenheit. Seit dem grauenhaften Tod ihrer Mutter war er zum einzigen Anker in Berninas Leben geworden, gemeinsam mit diesem Hof, dem Petersthal-Hof, dessen Eigentümerin sie war.
    Die ganze letzte Nacht über war Nils nicht nach Hause gekommen, und das machte Bernina schon zu schaffen, seit sie, in dem sie erwacht war. Baldus, der Knecht, seit Jahren eine treue Hilfe, hatte sich allein auf den Weg zu den Feldern machen müssen – und ihr Mann befand sich noch irgendwo dort draußen, jenseits der Wälder, auf die Bernina einen ungewissen Blick warf, als sie den Eimer aus dem Brunnen hochzog. Voller Abscheu dachte sie an die Gerüchte, an die Furcht, an diesen Krieg, der niemals ein Ende zu finden schien, an die Gewalt, vor der es offenbar kein Entrinnen gab.
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