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Die Entdeckung der Currywurst

Die Entdeckung der Currywurst

Titel: Die Entdeckung der Currywurst
Autoren: Uwe Timm
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folgenden Vormittag noch, dann war Herr Zwerg, der bei den Sturmpionieren gedient hatte, unter den Augen vieler Neugieriger dem Tier nachgestiegen. Die Katze war aber vor ihm höher und noch höher in die Baumkrone geflüchtet, und plötzlich saß auch Herr Zwerg hoch oben im Baum und konnte nicht mehr heruntersteigen. Die Feuerwehr mußte kommen und holte mit einer Leiter beide, Herrn Zwerg und die Katze, aus dem Baum. Meiner Erzählung hatte er schweigend zugehört. Er drehte sich um, nahm sein linkes Auge heraus und putzte es mit einem Taschentuch. Das waren Zeiten, sagte er. Er setzte sich das Auge wieder ein und schnupfte sich die Nase aus. Ja, sagte er schließlich, ich war überrascht, als ich so weit oben saß, konnte von oben die Distanz nicht recht abschätzen.
    Er war von den alten Bewohnern der letzte in dem Haus. Vor zwei Monaten hatte ihm der neue Hausbesitzer eine Mieterhöhung angekündigt. Die war nicht mehr bezahlbar. Würd ja noch weitermachen, auch wenn ich nächstes Jahr achtzig werd. Kommt man so ja unter die Leute. Rente? Schon. Verhungern kannste nich davon, aber leben auch nich. Jetzt kommt hier ne Vinothek rein. Dachte zuerst, is so was wie n Musikgeschäft. Frau Brücker? Nee, is schon lange weg. Die is bestimmt schon nicht mehr.
     
    Ich habe sie dann doch noch getroffen. Sie saß am Fenster und strickte. Die Sonne schien abgemildert durch die Stores. Es roch nach Öl, Bohnerwachs und Alter. Unten im Empfang saßen rechts und links an den Korridorwänden viele alte Frauen und ein paar alte Männer, Filzhausschuhe an den Füßen, orthopädische Manschetten an den Händen, und starrten mich an, als hätten sie seit Tagen auf mein Kommen gewartet. 243 hatte mir der Pförtner als Zimmernummer gesagt. Ich war zum Einwohnermeldeamt gegangen, dort hatte man mir ihre Adresse gegeben, ein städtisches Altersheim in Harburg.
    Ich habe sie nicht wiedererkannt. Ihr Haar war, schon als ich sie zuletzt gesehen hatte, grau, aber jetzt war es dünn geworden, ihre Nase schien gewachsen zu sein, auch das Kinn. Das früher leuchtende Blau ihrer Augen war milchig. Allerdings waren ihre Fingergelenke nicht mehr geschwollen.
    Sie behauptete, sich deutlich an mich erinnern zu können. Kamst als Junge auf Besuch, nich, und hast bei der Hilde iner Küche gesessen. Später warste manchmal am Imbißstand. Und dann bat sie mich, mein Gesicht anfassen zu dürfen. Sie legte das Strickzeug aus den Händen. Ich spürte ihre Hände, ein flüchtig tastendes Suchen. Zarte, weiche Handflächen. Die Gicht is weg, dafür kann ich nix mehr sehen. Gibt eben so was wie n allmächtigen Ausgleich. Hast ja keinen Bart mehr, auch das Haar nich mehr so lang. Sie blickte hoch und in meine Richtung, aber doch ein wenig an mir vorbei, als stünde hinter mir ein anderer. Neulich war einer da, sagte sie, der wollte mir ne Zeitschrift andrehn. Ich kauf nix.
    Sobald ich sprach, korrigierte sie den Blick und sah mir manchmal in die Augen. Ich wollte nur etwas fragen. Ob ich das richtig in Erinnerung hätte, daß sie kurz nach dem Krieg die Currywurst erfunden habe.
    Die Currywurst? Nee, sagte sie, ich hab nur nen Imbißstand gehabt.
    Einen Moment lang dachte ich, es wäre besser gewesen, sie gar nicht besucht und gefragt zu haben. lch hätte dann weiter eine Geschichte im Kopf gehabt, die eben das verband, einen Geschmack und meine Kindheit. Jetzt, nach diesem Besuch, konnte ich mir genausogut irgend etwas ausdenken.
    Sie lachte, als könne sie mir meine Ratlosigkeit, ja meine Enttäuschung, die ich nicht verbergen mußte, ansehen.
    Doch, sagte sie, stimmt, will mir hier aber keiner glauben. Die haben nur gelacht, als ich das erzählte. Haben gesagt, ich spinne. Jetzt geh ich nur noch selten runter. Ja, sagte sie, ich hab die Currywurst entdeckt.
    Und wie?
    Is ne lange Geschichte, sagte sie. Mußte schon n bißchen Zeit haben.
    Hab ich.
    Vielleicht, sagte sie, kannste nächstes Mal n Stück Torte mitbringen. Ich mach uns n Kaffee.
     
    Siebenmal fuhr ich nach Harburg, sieben Nachmittage der Geruch nach Bohnerwachs, Lysol und altem Talg, siebenmal half ich ihr, die sich langsam in den Abend ziehenden Nachmittage zu verkürzen. Sie duzte mich. Ich siezte sie, aus alter Gewohnheit.
    Man wartet ja auf nix, sagte sie, und dann nix mehr sehen. Siebenmal Torte, siebenmal schwere süßmassive Keile: Prinzregenten, Sacher, Mandarinensahne, Käsesahne, siebenmal brachte ein freundlicher Zivildienstleistender namens Hugo rosafarbene Pillen gegen zu
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