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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
Autoren: Paolo Giordano
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jetzt hatte sie selbst auch noch eine dreckige Unterhose an.
    Ihre Finger begannen taub zu werden. Sie zog einen Handschuh aus, blies hinein und stülpte ihn dann wieder über die geschlossene Faust, um sie zu wärmen. Mit der anderen Hand machte sie es genauso. Zwei- oder dreimal wiederholte sie das, so sinnlos dieser Versuch auch sein mochte.
    Es sind immer die Extremitäten, die einem Scherereien machen, hatte sie häufig von ihrem Vater gehört. Finger und Zehen, Nase, Ohren. Das Herz setze alles daran, das ganze Blut für sich zu behalten, und lasse den Rest erfrieren.
    Alice stellte sich vor, wie ihre Finger und Zehen blau wurden, und dann auch, ganz langsam, die Arme und Beine, wie ihr Herz immer schneller pumpte und sich mühte, die verbliebene Wärme ganz für sich zu behalten. Sie würde immer steifer werden, so steif, dass ihr ein Wolf, wenn zufällig einer vorüberkäme, schon den Arm brechen würde, indem er bloß über sie hinweglief.
    Man wird nach mir suchen.
    Ob es hier wirklich Wölfe gibt?
    Ich spüre meine Finger nicht mehr.
    Hätte ich doch diese Milch nicht getrunken.
    Gewicht nach vorn.
    Ach was, Wölfe machen doch jetzt Winterschlaf.
    Eric wird furchtbar sauer sein.
    Ich habe keine Lust auf diese Skirennen.
    So ein Blödsinn, du weißt doch ganz genau, Wölfe machen keinen Winterschlaf.
    Ihre Gedanken wurden immer wirrer und drehten sich
wie im Kreis. So als wäre nichts geschehen, ging die Sonne langsam hinter dem Mont Chaberton unter. Die Schatten der Berge zogen über Alice hinweg, und der Nebel wurde stockfinster.

Das Archimedische Prinzip (1984)

2
    Als die Zwillinge noch klein waren und Michela wieder einmal eine ihrer typischen Aktionen gebracht hatte - etwa sich mit dem Laufstuhl die Treppe hinunterzustürzen oder sich eine Erbse so tief ins Nasenloch zu stecken, dass man sie zur Unfallstation bringen musste, um ihr dort mit einer Spezialzange den Fremdkörper entfernen zu lassen, wandte sich ihr Vater manchmal an Mattia, der kurz vor der Schwester das Licht der Welt erblickt hatte, und erklärte ihm, dass Mamas Gebärmutter für sie beide wohl zu klein gewesen sei.
    »Wer weiß, was ihr da in ihrem Bauch getrieben habt. Vielleicht hast du sie ständig getreten und ihr damit ernsthafte Schäden zugefügt.«
    Dann lachte er, obwohl es da gar nichts zu lachen gab, hob Michela in die Höhe und rieb seinen Bart an ihren weichen Wangen.
    Mattia sah ihnen von unten aus zu. Auch er selbst lachte, und ohne dass er die Worte seines Vaters recht verstand, sickerten sie doch osmotisch in ihm ein und lagerten sich tief
unten in seinem Bauch ab. Er ließ es zu, dass sie dort mit der Zeit eine dicke klebrige Schicht bildeten, wie der Bodensatz zu lange gelagerter Weine.
    Das Lachen seines Vaters wurde immer gequälter, als Michela auch mit siebenundzwanzig Monaten noch kein Wort herausbekam, das man als solches hätte bezeichnen können. Noch nicht einmal Mama oder Nucki oder Aa oder Adda. Ihre unzusammenhängenden, spitzen Schreie kamen von einem Ort, der so verlassen und einsam war, dass Papa jedes Mal aufs Neue erschauderte.
    Als sie fünfeinhalb war, setzte eine Logopädin mit dicken Brillengläsern Michela vor einen kleinen Sperrholzkasten mit vier unterschiedlich geformten Vertiefungen: einem Stern, einem Kreis, einem Quadrat und einem Dreieck, und den entsprechenden bunten Klötzen, die in die Löcher einzufügen waren.
    Mit großen Augen blickte Michela die Frau an.
    »Wohin kommt der Stern, Michela?«, fragte die Logopädin.
    Michela senkte den Blick auf das Spiel und rührte sich nicht. Die Logopädin drückte ihr den Stern in die Hand.
    »Wo kommt das hin, Michela?«, fragte sie noch einmal.
    Michela schaute ins Leere, steckte sich dann eine der fünf gelben Spitzen in den Mund und begann, daran zu knabbern. Die Logopädin zog ihr die Hand vom Mund fort und wiederholte zum dritten Mal die Frage.
    »Herrje, Michela, jetzt tu schon, was die Dame sagt«, fuhr ihr Vater sie an, dem es schwerfiel, ruhig auf dem Stuhl sitzen zu bleiben, den man ihm angewiesen hatte.
    »Bitte, Signor Balossino«, wies ihn die Doktorin milde zurecht. »Kinder brauchen ihre Zeit, und die muss man ihnen lassen.«

    Und Zeit nahm sich Michela tatsächlich. Eine ganze Minute. Dann stieß sie ein lautes Stöhnen aus, das sowohl Begeisterung als auch Verzweiflung bedeuten konnte, und steckte den Stern entschlossen in das quadratische Loch.
     
    Hätte Mattia bis dahin nicht schon selbst längst begriffen, dass mit
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