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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
Autoren: Paolo Giordano
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dachte sie daran, ihm zu erzählen, was tatsächlich vorgefallen war. Der Nebel, das war es, nur der Nebel war schuld. Sie war hinter den anderen her die Riesenslalompiste hinuntergefahren, als sich plötzlich der Skipass von der Jacke löste. Nein, halt, niemandem flog der Skipass fort. Um den zu verlieren, musste man sich schon unheimlich dumm anstellen. Lieber der Schal. Der Schal war ihr fortgeflogen, und sie musste ein Stück zurück, um ihn sich zu holen, und die anderen hatten nicht gewartet. Wieder und wieder hatte sie ihnen nachgerufen, aber nichts zu machen, die hörten sie einfach nicht und verschwanden im Nebel, und so musste sie allein weiter, um sie zu suchen.
    Und warum bist du nicht wieder hoch, als du sie nicht gefunden hast?, würde ihr Vater sie fragen.
    Ja, richtig, warum eigentlich? Wenn sie es genau überlegte, wäre es doch besser, den Skipass verloren zu haben. Sie konnte nicht wieder hochfahren, weil sie keinen Skipass
mehr hatte, und der Mann am Sessellift hatte sich nicht erweichen lassen.
    Alice lächelte zufrieden. Ja, das passte. Inzwischen fühlte sie sich auch nicht mehr so vollgeschmiert. Das Zeug troff jetzt nicht mehr.
    Wahrscheinlich ist es gefroren, dachte sie.
    Den restlichen Tag würde sie vor dem Fernseher verbringen. Sie würde duschen und sich frische Sachen anziehen und die Füße in ihre flauschigen Pantoffeln stecken. Sie wäre den ganzen Tag im Warmen geblieben, wenn sie nur ein wenig den Blick von den Skiern gehoben hätte, gerade genug, um das orangefarbene Band mit der Aufschrift Piste geschlossen zu bemerken. Und dabei hatte ihr Vater sie doch immer ermahnt, die Augen aufzumachen und zu schauen, wo es langging. Wenn sie sich nur erinnert hätte, dass im Tiefschnee das Gewicht nicht nach vorn verlagert wurde, und wenn Eric ihr ein paar Tage zuvor die Bindung besser eingestellt oder ihr Vater mit mehr Nachdruck darauf bestanden hätte: Alice wiegt doch nur achtundzwanzig Kilo. Die ist sicher zu fest.
    Der Sturz war nicht allzu tief. Ein paar Meter, gerade tief genug, um eine Leere im Magen und unter den Füßen zu spüren. Dann lag Alice bereits mit dem Gesicht im Schnee, während die Skier, die, wie sich nun herausstellte, stärker als ihr Wadenbein waren, aufrecht aus dem Schnee herausragten.
    Und so furchtbar weh tat es auch nicht. Eigentlich spürte sie gar nichts. Nur den Schnee, der unter Schal und Helm eingedrungen war und hier und dort auf der Haut brannte.
    Das Erste, was sie bewegte, waren die Arme. Als sie noch kleiner gewesen war, hatte ihr Vater sie, wenn morgens beim Aufwachen Schnee lag, gut eingepackt und war mit ihr rausgegangen.
Hand in Hand stapften sie durch den frischen Schnee ein Stück hinein in den Garten, zählten eins, zwei, drei und ließen sich dann gleichzeitig rückwärts in den Schnee fallen. Und jetzt mach den Engel, forderte ihr Vater sie auf, woraufhin sie die Arme auf und ab bewegte, und wenn sie dann aufstand und sich ihr Werk betrachtete, sahen ihre Umrisse in der weißen Decke tatsächlich wie der Schatten eines Engels mit gespreizten Flügeln aus.
    Und so machte sie auch jetzt den Engel im Schnee, einfach so, ohne eigentlichen Grund, vielleicht nur um sich selbst zu beweisen, dass sie noch lebte. Es gelang ihr, den Kopf zu einer Seite zu drehen und zu atmen, obwohl sie zu spüren glaubte, dass die Luft, die sie aufnahm, gar nicht dorthin gelangte, wo sie hin sollte. Zudem hatte sie das merkwürdige Gefühl, nicht zu wissen, wie ihre Beine lagen. Ja, das höchst merkwürdige Gefühl, gar keine Beine mehr zu haben.
    Sie versuchte aufzustehen, schaffte es aber nicht.
    Ohne diesen Nebel hätte sie vielleicht jemand von oben aus sehen können. Einen grünen Fleck unten in einer Rinne, nur wenige Meter von dem Bett entfernt, in dem im Frühling ein Bächlein plätscherte und wo mit den ersten warmen Tagen auch wieder die Walderdbeeren sprießen würden, die, wenn man nur lange genug wartete, süß wie Karamellbonbons schmeckten und von denen man an einem guten Tag ein ganzes Körbchen voll pflücken konnte.
    Alice rief um Hilfe, doch ihre schwache Stimme wurde vom Nebel verschluckt. Noch einmal versuchte sie, sich zu erheben oder zumindest ein wenig zu drehen. Aber es war nichts zu machen.
    Ihr Vater hatte ihr erzählt, dass einem, wenn man erfror, kurz bevor es zu Ende ging, plötzlich zu warm werde und
man den Drang verspüre, seine Kleider auszuziehen. Das sei der Grund, weswegen man fast alle Erfrorenen in Unterhosen auffinde. Und
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