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Die einsamen Toten

Titel: Die einsamen Toten
Autoren: S Booth
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Ratten fern zu halten.
    Schließlich warf er noch einen prüfenden Blick auf das Stahlgitter, das den mittleren Tunnel vor unerlaubtem Zutritt schützen sollte. Alle drei Tunnel waren mit Gittern verschlossen. Ohne sie würden Eisenbahnfans und andere, noch weniger willkommene Gäste, ständig versuchen, in die Tunnel einzudringen. Manche würden sicher nur die drei Meilen bis zum anderen Ende zurücklegen wollen, als Beweis für ihren Mut. Und dabei würden sie sich von den Ratten nicht abhalten lassen. Auch nicht von dem Risiko, das von den Hochspannungskabeln ausging. Nicht einmal die gelb-schwarzenWarnschilder des National Grid an den Gittern würden sie abschrecken. Die Bedeutung der Schilder – ein schwarzer Blitz, der durch einen menschlichen Körper fuhr – war eindeutig genug. Auch ohne das darunter stehende Wort war die Botschaft klar: »Lebensgefahr« .
     
    Sobald im alten Pfarrhaus das Telefon klingelte, ließ Sarah Renshaw alles liegen und stehen und schaute auf die nächste Uhr. Es war wichtig, die genaue Zeit zu wissen, wenn der Moment gekommen war.
    Sie saß im Wohnzimmer, wo die Wanduhr aus Mahagoni gerade fünf Minuten nach zehn anzeigte. Nach einem prüfenden Blick auf ihre Armbanduhr korrigierte Sarah den Minutenzeiger, damit die Zeit übereinstimmte. Es durfte keinerlei Unstimmigkeiten geben. Jede einzelne Zeitangabe war wichtig – die Zeit, als Emma zuletzt gesehen wurde, die Zeit, als ihr Zug Wolverhampton verlassen hatte, die Zeit, zu der sie hätte zu Hause sein sollen. Und von allergrößter Bedeutung würde die Zeit ihres Auffindens sein, auf die Minute genau. Das Zählen der Minuten spendete Sarah Trost. Es war mehr als ein Ritual. Zeit war wichtig.
    Howard war ans Telefon gegangen, also wartete Sarah. Auf ihrer großen Eichenanrichte aus der Zeit Jakobs I. stand in der
Mitte eine brennende Kerze. Der Docht war schon fast zur Hälfte abgebrannt, und das geschmolzene Wachs sammelte sich in dem Kerzenhalter aus Messing. In einer der Schubladen lag ein Vorrat an weiteren Kerzen. Sarah wollte am liebsten sofort eine neue anzünden, um diesen Augenblick festzuhalten – als ob das etwas ändern würde. Aber sie schob ihre Hände unter die Achseln und beherrschte sich, während sie Howards Stimme im Zimmer nebenan lauschte. Sie würde es seinem Tonfall anhören.
    Wieder schaute Sarah auf die Uhr. Sechs Minuten nach zehn. Einen Augenblick lang verspürte sie Panik. Welche Zeit wäre später wichtiger – der exakte Zeitpunkt, als das Telefon geklingelt, oder der Moment, in dem sie die Nachricht erhalten hatte? Welchen Zeitpunkt würde sie in den kommenden Jahren feiern?
    »Howard?«, rief sie. »Howard?«
    Aber er antwortete nicht, und Sarah beruhigte sich rasch wieder. Howards Stimme drang gedämpft zu ihr herüber. Wäre es bei dem Anruf um Emma gegangen, hätte sie es mittlerweile gewusst. Die Nachricht wäre durch die Wand zu ihr durchgesickert. Sarah hatte oft gedacht, dass der Anruf, wenn er denn käme, sich nicht durch ein normales Klingeln des Telefons ankündigen würde, sondern wie ein Fanfarenstoß klänge. Sie stellte sich eine Reihe livrierter Trompeter vor, denen ähnlich, die bei offiziellen Anlässen zusammen mit der Königin auftraten. In ihren Ohren hallte bereits der Klang der Trompeten wider.
    Und ganz sicher würde sich dieser Moment körperlich bemerkbar machen – durch ein Kribbeln und die kleinen Freudenschauer, die sie empfand, wann immer sie Emma in ihrer Nähe wähnte. Wenn der Anruf kam, würde ein Blitz sie durchzucken wie bei einer elektrischen Entladung, so stark wie die vierhunderttausend Volt in den Kabeln, die sechzig Meter unterhalb ihres Hauses durch den Berg liefen.

    Sie würde es sofort wissen, wenn der Anruf käme. Sarah würde nicht angestrengt Howards Stimme lauschen oder mit eigenen Ohren hören müssen, was die Person am anderen Ende der Leitung sagte. Die Fanfare würde erklingen, und die Spannung würde sich in ihrem Körper entladen, ihre Hände und Gesichtshaut versengen. Und die Wanduhr aus Mahagoni würde von sich aus in dem Moment stehen bleiben, in dem exakten Bruchteil der Sekunde, und würde niemals mehr weiterticken. Und Sarah würde es wissen.
    Howard kam ins Wohnzimmer, das schlagartig von seiner bulligen Gestalt ausgefüllt war. Er trug einen dicken, weißen Arranpullover, der in Sarah den Wunsch weckte, ihre Arme um ihn zu schlingen und ihr Gesicht in der Wolle zu vergraben. Aber Howard schüttelte nur kurz den Kopf und wandte die
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