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Die Dornen der Rose (German Edition)

Die Dornen der Rose (German Edition)

Titel: Die Dornen der Rose (German Edition)
Autoren: Joanna Bourne
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wischte sich die Regentropfen aus dem Gesicht. Ihr Unterarm war voller Sand und roch nach zertretenem Gras und Schweiß. Und Rauch. »Du bist von meinen Problemen sicher schon über die Maßen gelangweilt. Das eigene Unglück ist immer von höchster Bedeutung. Das Unglück anderer weniger.«
    Dicht über ihr hingen Wolken, deren Farbe an langsam verheilende blaue Flecken erinnerte. Ein paar spitze Regentropfen fielen ihr auf das Gesicht, als sie hinaufblickte. Sogar so weit vom Château entfernt hatten sich kleine schwarze Rußpartikel auf die Blätter der Bäume gelegt. Die Regentropfen vermengten sich mit dem Ruß.
    »Hier ist die Geschichte, wenn du sie denn lesen willst.« Sie fing ein paar Tropfen mit der Hand auf. »Dies«, sie nahm einen schwarzen Fleck mit dem Zeigefinger auf, »stammt von den Vorhängen im Blauen Salon, als sie in Flammen aufgingen. Und das hier«, ein anderes Aschehäufchen, »war eine Seite von einem Buch aus der Bibliothek. Ein mathematischer Text. Das hier …« Sie nahm etwas Asche von ihrem Unterarm. »Das ist der Punkt von einem Satzende in einem meiner Notizbücher. Es war die einzige Abschrift einer alten Sage der Menschheit. Die gibt es nun nicht mehr.«
    Sie ließ die Tropfen weiterströmen. Sie war sehr müde. Die ganze Nacht war sie auf gewesen, zwei Nächte hintereinander, in denen sie die letzte Ladung Spatzen in Sicherheit gebracht hatte. Sie hatte drei Männer, drei Frauen und ein Kind durch die dunklen Felder zur verlassenen Mühle, der letzten Zwischenstation, geführt. Bis zur Ankunft vom Sohn des Reihers, der für ihren Weitertransport verantwortlich war, hatte sie ausgeharrt. Dann war sie den langen Weg zurückgetrottet. Denn Krähe – der vorsichtige, verlässliche Krähe, der nie ein Treffen verpasst hatte – war noch nicht eingetroffen. Er verspätete sich, und sie machte sich Sorgen.
    Die Spatzen hatten sich ziemlich ausgiebig darüber beschwert, dass sie kein Essen für sie hatte. Keiner hatte sich danach erkundigt, was ihr während des Brands des Châteaus widerfahren war.
    Sie würden nach London gehen, diese Spatzen, und allen erzählen, wie tapfer sie gewesen wären und welchen Gefahren sie sich bei ihrer Flucht aus Frankreich ausgesetzt hätten. Keiner von ihnen würde vom Mut des jungen Sohns des Reihers reden, der nachts allein unterwegs war, um sie weiterzuführen. Oder von Jeanne, Codename Zaunkönig, die ihr Leben aufs Spiel setzte, um sie aus Paris zu schleusen. Oder Fischreiher und Feldlerche und all den anderen, bei denen sie unterwegs Unterschlupf gefunden hatten. Für die Spatzen war das alles selbstverständlich.
    Sie zitterte. Doch das geschah ihr nur recht. Wieso saß sie auch bei diesem Nieselregen auf dem Boden und unterhielt sich mit einem Kaninchen? »Ich werde dir sagen, was ich tun sollte. Ich sollte mit deinem – ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, dass ich mich so krass ausdrücke –, mit deinem Kadaver tief in den Wald hineingehen, ein Feuer anzünden, dich auf einen Spieß stecken und rösten. Dann sollte ich mich im Dunkel der Nacht in Richtung Paris auf den Weg machen.« Sie rieb sich die Arme, doch dadurch wurden sie kein bisschen wärmer. »Krähe ist sehr gewitzt. Ich sollte ihn sich um seine eigenen Spatzen kümmern lassen und die anderen warnen.«
    Die Furcht des Kaninchens war wie das Kreischen von Eisen auf einem Mahlstein. Abgrundtiefes Entsetzen.
    Im Rücken spürte sie den Wind, der aus der Richtung des Châteaus kam und widerlich nach Rauch und irgendwie metallisch roch. »Erwarte kein Mitleid, Bürger Kaninchen. Ich habe kein Herz. Das war das Erste, was ich aufgegessen habe, als ich Hunger bekam.«
    Das Kaninchen zuckte nicht einmal, als sie es anfasste, doch unter dem Fell spürte sie sein Zittern. Das Messer in ihrer Tasche war schärfer als noch vor vier Tagen, als es noch das friedliche Leben eines Brieföffners geführt hatte. Sie zwängte einen Finger unter die Seidenschnur, die das Kaninchen hielt. »Statt vernünftig zu sein, werde ich auf trockenen Körnern rumkauen, die mir nicht bekommen werden, und dich freilassen.« Sie schnitt das rote Band durch.«Du wirst nicht dankbar sein. Das weiß ich. Du wirst heute Nacht mit mindestens hundert Kaninchen zurückkommen und die Brücke, unter der ich sitze, in Brand stecken.«
    Es rührte sich nicht.
    »Geh schon, geh. Du ärgerst mich, wie du so dort liegst. Geh, ehe ich meine Meinung ändere und dich doch noch mit Lauch und Brunnenkresse gewürzt
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