Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Dämonen ruhen nicht

Die Dämonen ruhen nicht

Titel: Die Dämonen ruhen nicht
Autoren: Patricia Cornwell
Vom Netzwerk:
fährt sie fort, »so sehr wir auch versuchen, sie zu schützen.«
    Kein Wetterleuchten mehr. Nur eine seidig schwarze Dunkelheit, kühl und angenehm, denkt Nic, während sie Scarpetta beobachtet. Sie ist sanft. Hinter einer Fassade aus Leidenschaft, Furchtlosigkeit und gnadenloser Kompetenz ist sie sanft und gütig.
    »In unserem Beruf können Beziehungen zu Opfern werden. Das geschieht häufig«, spricht Scarpetta weiter. Wie immer versucht sie zu belehren, da es ihr leichter fällt, Inhalte mitzuteilen als ihre Gefühle. Im Abstandhalten ist sie Meisterin.
    »Haben Sie Kinder, Doc?« Reba, eine Spurensicherungsexpertin aus San Francisco, ist schon beim vierten Whiskey Sour. Ihre Sprache klingt bereits schleppend, und sie hat kein Taktgefühl mehr.
    Scarpetta zögert. »Ich habe eine Nichte.«
    »Ach ja, jetzt fällt's mir wieder ein. Lucy. Sie ist oft in den Nachrichten. Oder vielmehr, war...«
    Dumme, betrunkene Ziege, ereifert sich Nic in Gedanken.
    »Ja, Lucy ist meine Nichte«, erwidert Scarpetta.
    »FBI. Computergenie.« Reba lässt nicht locker. »Und was kam dann? Lassen Sie mich überlegen. Irgendwas mit Helikoptern und dem ATF .. .«
    ATF — die Behörde für Alkohol, Tabak und Feuerwaffen, du besoffene Gans. In Nics Kopf blitzt und donnert es.
    »... weiß nicht mehr genau. War da nicht ein großes Feuer, bei dem jemand umgekommen ist? Was macht sie denn jetzt?« Reba leert ihren Whiskey Sour und hält Ausschau nach der Kellnerin.
    »Das ist schon lange her.« Scarpetta beantwortet ihre Frage nicht, und Nic bemerkt an ihr eine Erschöpfung und Traurigkeit, die so unabänderlich verwachsen ist wie die gekrümmten Stümpfe der Zypressen in den Sümpfen und Bayous ihrer Heimat im Süden von Louisiana.
    »Ist das nicht ein Witz? Ich hatte ganz vergessen, dass sie Ihre Nichte ist. Inzwischen hat sie es doch weit gebracht -oder hatte es, vorübergehend«, redet Reba rücksichtslos weiter und schiebt ihr kurzes dunkles Haar aus den blutunterlaufenen Augen. »Sie hat Ärger gehabt, richtig?«
    Blöde Tussi, halt's Maul!
    Ein Blitzstrahl durchschneidet den schwarzen Vorhang der Nacht, und kurz kann Nic auf der anderen Seite weißes Tageslicht erkennen. So hat ihr Vater es immer erklärt. Siehst du, Nic, meinte er, wenn sie während tobender Gewitter aus dem Fenster schauten und der Blitz unvermittelt und ohne Vorwarnung zickzackförmig den Himmel durchschnitt wie eine gleißende Klinge: Es gibt immer ein Morgen, verstehst du? Du musst ganz schnell hinschauen, Nic. Auf der anderen Seite ist Morgen. Das grelle weiße Licht. Und sieh, wie schnell es heilt. Gott heilt genauso schnell.
    »Reba, geh zurück ins Hotel«, weist Nic sie in demselben strengen, beherrschten Tonfall an, den sie auch benützt, wenn Buddy einen Trotzanfall hat. »Du hattest für heute genug Whiskey.«
    »Ach, Entschuldigung, Miss Oberstreberin.« Reba redet, als hätte sie Gummibänder im Mund.
    Nic spürt Scarpettas Blick auf sich und wünscht, sie könnte ihr signalisieren, dass sie auf ihrer Seite steht oder sich zumindest für Rebas unmögliches Benehmen entschuldigen will.
    Lucy, die Nichte, schwebt wie ein Hologramm im Raum, und Scarpettas kaum wahrnehmbare, aber sehr emotionale Reaktion löst in Nic eine heftige Eifersucht aus, von der sie gar nichts geahnt hat. Sie fühlt sich der Nichte ihres Idols, der Superpolizistin, deren Welt und Talente im Vergleich zu denen von Nick unermesslich sind, unterlegen. Ihr Herz schmerzt wie ein erstarrtes Gelenk, das endlich wieder bewegt werden kann, so wie damals, als ihre Mutter ihr jedes Mal, wenn die Schiene abgenommen wurde, vorsichtig den gebrochenen Arm gerade bog.
    Schmerz ist etwas Gutes, Kind. Wenn du nichts spüren würdest, wäre dein kleines Ärmchen tot und würde abfallen. Und das möchtest du doch nicht, oder?
    Nein, Mama. Tut mir Leid, dass mir das passiert ist.
    Aber das ist doch albern, Nicci. Schließlich hast du dir ja nicht mit Absicht wehgetan!
    Ich habe Papa nicht gehorcht. Ich bin in den Wald gelaufen, und dort bin ich gestolpert .
    Wir machen alle Fehler, wenn wir Angst haben, Kind. Vielleicht war es sogar das Beste, dass du hingefallen bist. So hast du nämlich auf dem Boden gelegen, als es überall geblitzt und gedonnert hat.

4
    In Nics Erinnerungen an ihre Kindheit im tiefen Süden wimmelt es von Gewittern.
    Offenbar hatte der Himmel damals allwöchentlich schreckliche Wutanfälle, donnerte wie rasend und versuchte gleichzeitig, jedes Lebewesen auf der Erde entweder zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher