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Die Chronistin

Die Chronistin

Titel: Die Chronistin
Autoren: Julia Kröhn
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alt, um einen anderen Bräutigam zu finden. So dichtete die Familie ihr Frömmigkeit an und schickte sie ins Kloster.
    Selbst die Konversinnen, welche niemals dem Rang einer Nonne ebenbürtig waren, weil sie keine Mitgift einbrachten und die niedrigen Dienste zu versehen hatten, konnten von einem Leben außerhalb des Klosters berichten. Sophia hörte Friedegunde von einer schrecklichen Hungersnot sprechen (und schrieb Gleiches später auf), die jene hatte durchleiden müssen. In einem Jahr hatte es so viel geregnet, dass der Boden aufgeweicht worden war, man ihn nicht pflügen und noch weniger das übliche Getreide – Roggen, Sandkorn oder Hafer – anbauen konnte. Ein Bauer wagte es trotz eindringlichen Ratschlags der Standesgenossen, es doch zu versuchen, und musste erleben, wie sein Pflug samt Zugochsen versank. Fünf starke Männer brauchte es, beides aus dem braunen Schlamm zu ziehen, und als das geschehen war, war der Ochse bereits verendet. Ohne Ernte gab es nichts zu essen, und man litt Hunger und Not. Zuerst schlachtete man das ganze Vieh, dann wurde das Brotmehl mit gemahlenen Farnkrautwurzeln, Traubenkernen und Haselnussblüten gestreckt. Später aß man schwarze Wurzeln aus dem Wald, dann welkes Gras und schließlich das Fleisch der verhungerten Nachbarn. Manche Nachbarn, so hieß es, lockten Menschen an heimliche Stellen, um sie dort zu erschlagen und anschließend die Leichen zu braten.
    Letzteres war das Schauerlichste an der Geschichte, aber Sophia hatte ihr nichts entgegenzusetzen.
    Warum sagt Mechthild, der Name meines Vaters sei schäbig?, schrieb sie nieder. Wer sind meine Eltern? Waren sie es, die mich dem Kloster anvertraut und bestimmt haben, dass ich mein Leben Gott weihe?
    Gemurmelt bedeuteten ihr die Fragen so wenig wie nichtssagende Gerüchte. Geschrieben aber stachen sie ihr ins Auge, wanderten schmerzhaft durch die zugeschnürte Kehle und rumorten dort, wo das Herz pochte. All ihre Achtsamkeit zogen sie auf sich, sodass sie nicht bemerkte, wie Schwester Irmingard, die die Mädchen im Skriptorium zu Kopistinnen erzog, hinter sie trat. Deren Augen weiteten sich diesmal nicht leidend, sondern in Verwirrung.
    »Aber kleine Sophia!«, stieß sie aus, »Was verführt dich, solcherlei Sätze aufzuschreiben?«
    Sophia antwortete mit leiser Stimme. Trotz des Drucks in ihrer Kehle weinte sie nicht, weil man keine Tränen vergießt für eine Welt, die zwar ein Jammertal ist und eine vermaledeite, aber am Jüngsten Tag von Gott dem Allmächtigen unter Posaunenklängen erneuert wird. Dennoch brannte es in ihren Augen, weil sie sie nicht von der Schrift löste.
    »Aber ich muss es aufschreiben! Wie sollte ich darauf Antwort finden, wenn ich es vergäße?«
    Schwester Irmingards Bewegungen waren leise, aber nicht weich. Sie war dem Mädchen zugetan, weil es von allen anderen am schnellsten lernte und am schönsten schrieb und weil sie als die gebildetste Frau des Klosters beides zu schätzen wusste. Schwester Irmingard schrieb die Annalen, gab als Bibliothekarin die Bücher aus und wählte unter den begabtesten Mädchen solche, die künftig als Kopistinnen in der Schreibstube Dienst tun sollten. Sie konnte anhand des Mondlaufs berechnen, wann die Gottesdienste anzusetzen waren, und wurde manches Mal von der Krankenschwester zu Rate gezogen, weil sie als Einzige die uralten Rezepte auswendig kannte. Manchmal legte sie, obwohl dies Aufgabe der Äbtissin war, auch die Abgaben der Bauern fest, die die umliegenden Felder bewirtschafteten, und an die von ihr genannten Mengen – es waren dies jährlich ein Ferkel, fünf Hühner und zehn Eier – hielt man sich getreulich.
    Trotz ihres hohen Ansehens im Kloster gerieten ihre Gefühle stets überdrüssig, waren widerwillig einem Geist abgerungen, der sich auf zu rechtfertigendes Lob beschränkt und sich eine Zumutung wie die Tröstung verbittet.
    »Kleine Sophia«, sagte sie nicht streng, aber müde, und ehe sie fortfahren konnte, hustete sie mehrmals trocken auf, »in Bälde schreibst du gut genug, um nicht nur auf Wachstafeln zu üben, sondern auf echtem Pergament. Dieses aber ist zu kostbar, um es zu verschwenden! Noch weniger darfst du meine Zeit vergeuden, und wenn ich jene nütze, dich anzuleiten, so einzig, auf dass du künftig die Werke großer, kluger Männer kopieren kannst.«
    »Aber ist’s nicht so«, begehrte Sophia auf, weil sie wusste, dass Irmingard sich Betteln und Zetern verschloss, nicht aber dem Argumentieren, »dass Ihr selbst nicht nur
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