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Die Chirurgin

Die Chirurgin

Titel: Die Chirurgin
Autoren: Tess Gerritsen
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es war mehrere Stunden im Kühlraum aufbewahrt worden. Es erinnerte ihn an das Gefühl, wenn man in einen Truthahn hineingreift und nach dem Beutel mit den Innereien tastet. Er schob die Hand bis zum Handgelenk hinein und befühlte mit den Fingern die Ränder der Wunde. Dieses Wühlen im intimsten Teil der weiblichen Anatomie war eine Verletzung der Schamgrenze. Er vermied es, Elena Ortiz ins Gesicht zu sehen. Nur so konnte er ihre sterblichen Überreste mit dem notwendigen Abstand betrachten, nur so konnte er sich auf die kalten technischen Details dessen konzentrieren, was ihrem Körper angetan worden war.
    »Der Uterus fehlt.« Moore sah Tierney an.
    Der Gerichtsmediziner nickte. »Er ist entfernt worden.«
    Moore zog seine Hand aus der Leiche heraus und starrte auf die Wunde, die wie ein offener Mund klaffte. Jetzt steckte Rizzoli die Hand hinein und mühte sich, mit ihren kurzen Fingern die Höhlung zu erforschen.
    »Sonst ist nichts entfernt worden?«, fragte sie.
    »Nur die Gebärmutter«, sagte Tierney. »Er hat die Blase und den Darm nicht angerührt.«
    »Was ist das für ein Ding, das ich hier tasten kann? Dieser harte kleine Knoten auf der linken Seite?«, fragte sie.
    »Das ist Nahtmaterial. Er hat es benutzt, um die Blutgefäße abzubinden.«
    Rizzoli hob verblüfft die Augen. »Das ist also ein chirurgischer Knoten?«
    »Einfaches Katgut, Stärke zwo-null?«, tippte Moore und sah Tierney fragend an.
    Tierney nickte. »Das gleiche Nahtmaterial, das wir bei Diana Sterling gefunden haben.«
    »Katgut, Stärke zwo-null?«, fragte Frost mit schwacher Stimme. Er hatte sich vom Seziertisch zurückgezogen und stand jetzt in einer Ecke, bereit, sich nötigenfalls auf das Waschbecken zu stürzen. »Ist das so was wie ein Markenname?«
    »Kein Markenname«, erwiderte Tierney. »Katgut ist ein chirurgischer Faden, der aus Rinder- oder Schafsdarm gewonnen wird.«
    »Und warum nennt man es dann Katgut?«, fragte Rizzoli.
    »Das geht auf das Mittelalter zurück, als man für Musikinstrumente Saiten aus Darm, also gut, benutzte. Die Musiker bezeichneten ihre Instrumente als kit, und die Saiten nannte man daher kitgut. Daraus wurde im Lauf der Zeit catgut oder Katgut. In der Chirurgie verwendet man dieses Material zum Zusammennähen tiefer Schichten von Bindegewebe. Der Körper löst den Faden nach einer gewissen Zeit auf und absorbiert das Material.«
    »Und wo würde er sich dieses Katgut besorgen?« Rizzoli sah Moore an. »Haben Sie im Fall Sterling eine Quelle ermittelt?«
    »Es ist nahezu unmöglich, eine bestimmte Quelle zu identifizieren«, antwortete Moore. »Katgut wird von einem Dutzend verschiedener Firmen hergestellt, von denen die meisten in Asien angesiedelt sind, zum Beispiel in Indien. Es wird immer noch in diversen ausländischen Krankenhäusern verwendet.«
    »Nur in ausländischen?«
    »Es gibt heute bessere Alternativen«, erklärte Tierney.
    »Katgut hat weder die Reißfestigkeit noch die Haltbarkeit synthetischer Nahtmaterialien. Ich bezweifle, dass es derzeit noch von vielen amerikanischen Chirurgen benutzt wird.«
    »Warum sollte unser unbekannter Täter so etwas denn überhaupt benutzen?«
    »Um freie Sicht zu haben. Um die Blutung lange genug unter Kontrolle zu halten, sodass er sehen kann, was er tut. Unser Unbekannter ist ein sehr ordentlicher Mann.«
    Rizzoli zog ihre Hand aus der Wunde. An der Innenfläche ihres Handschuhs war ein kleiner Blutstropfen hängen geblieben; er sah aus wie eine leuchtend rote Perle. »Wie geschickt ist er? Haben wir es mit einem Arzt zu tun? Oder mit einem Metzger?«
    »Er hat eindeutig anatomische Vorkenntnisse«, sagte Tierney. »Ich habe keinen Zweifel, dass er so etwas schon einmal gemacht hat.«
    Moore trat einen Schritt vom Tisch zurück. Ihn schauderte bei dem Gedanken an das, was Elena Ortiz durchgemacht haben musste, doch es gelang ihm nicht, die Bilder zu verdrängen. Was der Täter zurückgelassen hatte, lag direkt vor ihm und starrte mit weit aufgerissenen Augen ins Leere.
    Das Klappern der Instrumente auf dem Tablettwagen schreckte ihn auf und ließ ihn herumfahren. Der Assistent hatte den Wagen zu Dr. Tierney gerollt, der nur den Y-Schnitt ansetzen würde. Jetzt beugte der Assistent sich vor und spähte in die Bauchwunde.
    »Was passiert eigentlich damit?«, fragte er. »Wenn er den Uterus rausgerissen hat, was stellt er dann damit an?«
    »Das wissen wir nicht«, antwortete Tierney. »Die Organe hat man nie gefunden.«

2
    Moore stand auf einem
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