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Die Chirurgin

Die Chirurgin

Titel: Die Chirurgin
Autoren: Tess Gerritsen
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Stethoskop auf, um zu überprüfen, was der Assistenzarzt ihr soeben gesagt hatte. Im Bauchraum hörte sie keinerlei Geräusche. Kein Grummeln, kein Glucksen. Die Totenstille eines traumatisierten Darms. Sie setzte die Membran des Stethoskops auf die Brust, horchte auf die Atemgeräusche und vergewisserte sich so, dass der Endotrachealtubus richtig saß und beide Lungen mit Luft versorgt wurden. Das Herz hämmerte wie eine Faust gegen die Brustwand. Ihre Untersuchung nahm nur wenige Sekunden in Anspruch, und doch hatte sie das Gefühl, dass sie sich wie in Zeitlupe bewegte, dass um sie herum das ganze Personal wie erstarrt dastand und nur auf ihren nächsten Schritt wartete.
    Eine Schwester rief: »Systolischer kaum noch tastbar, liegt bei fünfzig!«
    Die Zeit verrann rasend schnell.
    »Bringen Sie mir Kittel und Handschuhe«, sagte Catherine. »Und bereiten Sie eine Laparotomie vor.«
    »Sollten wir ihn nicht in den OP bringen?«, fragte Littman.
    »Alle Säle sind belegt. Wir dürfen keine Zeit verlieren.«
    Irgendjemand warf ihr eine Papierhaube zu. Rasch steckte sie ihre schulterlangen roten Haare darunter und band sich eine Maske um. Eine OP-Schwester hielt schon einen sterilen Kittel bereit. Catherine zog ihn an und streifte sich Handschuhe über. Sie hatte keine Zeit, sich die Hände zu waschen, keine Zeit, es sich noch einmal zu überlegen. Sie war verantwortlich, und der namenlose Patient drohte ihr unter den Händen wegzusterben.
    Flugs wurden die Brust und das Becken des Patienten mit sterilen Tüchern abgedeckt. Sie schnappte sich ein paar Gefäßklemmen vom Tablett und sicherte damit schnell die Tücher, indem sie die Stahlzinken mit einem satten Klicken zusammenpresste.
    »Wo bleibt denn das Blut?«, rief sie.
    »Ich frage gerade im Labor nach«, antwortete eine Schwester.
    »Ron, Sie sind erster Assistent«, sagte Catherine zu Littman. Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen und fixierte einen blässlich aussehenden jungen Mann, der in der Nähe der Tür stand. Auf seinem Namensschild stand Jeremy Barrows, Medizinstudent. »Sie«, sagte sie zu ihm. »Sie sind zweiter Assistent.«
    In den Augen des jungen Mannes blitzte Panik auf. »Aber – ich bin erst im zweiten Jahr. Ich bin doch nur hier, um …«
    »Können wir noch einen weiteren chirurgischen Assistenzarzt bekommen?«
    Littman schüttelte den Kopf. »Die sind alle im Einsatz. In der 1 haben sie eine Kopfverletzung, und drüben auf der anderen Seite hat es einen Herzalarm gegeben.«
    »Gut.« Sie sah wieder den Studenten an. »Barrows, Sie sind der Glückliche. Schwester, holen Sie ihm einen Kittel und Handschuhe.«
    »Was muss ich denn tun? Ich habe nämlich wirklich keine Ahnung …«
    »Wollen Sie nun Arzt werden oder nicht? Also ziehen Sie schon die Handschuhe an!«
    Er wurde knallrot und wandte sich ab, um den Kittel überzuziehen. Der Junge hatte Schiss, aber ein ängstlicher Student wie Barrows war Catherine in vielerlei Hinsicht lieber als ein arroganter. Sie hatte es schon zu oft erlebt, dass das übersteigerte Selbstvertrauen eines Arztes einem Patienten das Leben gekostet hatte.
    Die Sprechanlage begann zu rauschen und zu knacken, und eine Stimme sagte: »Hallo, Schockraum 2? Hier Labor. Ich habe einen Hämatokrit für den unbekannten Patienten. Er liegt bei fünfzehn.«
    Er verblutet uns, dachte Catherine. »Wir brauchen das Blut augenblicklich!«
    »Ist schon unterwegs.«
    Catherine nahm das Skalpell. Der schwere Griff fühlte sich angenehm an, die stählerne Klinge war wie eine Verlängerung ihrer eigenen Hand, ihres eigenen Fleisches. Sie holte noch einmal kurz Luft und sog den Geruch von Alkohol und Talkumpuder ein. Dann presste sie die Klinge auf die Haut und vollführte den Schnitt, schnurgerade entlang der Längsachse des Abdomens.
    Das Skalpell zeichnete einen blutroten Strich auf die weiße Haut.
    »Absaugen und Laparotomiekompressen vorbereiten«, sagte sie. »Die Bauchhöhle ist voller Blut.«
    »Blutdruck kaum noch tastbar, liegt bei fünfzig.«
    »Das Null-Negativ und das frisch gefrorene Plasma sind da! Ich hänge es auf.«
    »Jemand muss den Rhythmus im Auge behalten. Wie sieht er im Moment aus?«, fragte Catherine.
    »Sinustachykardie. Puls auf hundertfünfzig gestiegen.«
    Sie durchschnitt die Haut und das subkutane Fettgewebe und ignorierte die Blutung aus der Bauchdecke. Mit solchen Kleinigkeiten konnte sie sich jetzt nicht abgeben; die bedrohliche Blutung kam aus dem Inneren des Abdomens, und sie musste
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