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Die Brut

Titel: Die Brut
Autoren: Thea Dorn
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Sehr freundlich. – Aber nachher, wenn wir auf Sendung sind, will ich das doppelt so laut haben«, sagte sie, als die letzten Klatscher verstummt waren. »Mindestens. Der Applaus, den ich eben gehört habe, kommt auf dem Bildschirm als mittelschwere Depression rüber.«
    Das Publikum lachte. Nicht, weil es diesen Scherz nicht erwartet hätte. Jeder kannte heutzutage jemanden, der schon einmal Gast oder wenigstens Publikum in einer Talkshow gewesen war. Jeder wusste, welche Art Scherze die
Hosts
machten, um ihr Publikum anzuwärmen. Das Publikum lachte, weil es das alles vom Hörensagen kannte. Es hätte sich betrogen gefühlt, hätte Tessa einen unerwarteten Scherz gemacht. Das Publikum wollte dasselbe haben, was alle vor ihm bekommen hatten. So serviert, als sei es das erste Mal.
    »Wenn Sie gleich die Titelmusik hören, sind Sie bitte still. Und wenn ich Sie dann zur Sendung begrüße, klatschen Sie, als ob Sie mich den ganzen Abend noch nicht gesehen hätten. Wenn mein Gast durch diese Tür kommt«, Tessa zeigte mit der Hand, in der sie die Karteikarten hielt, nach links, »brauchen Sie nicht mehr zu spielen. Denn unseren Gast haben Sie ja tatsächlich noch nicht gesehen. So. Jetzt klappen Sie bitte die Tische zurück und stellen Ihre Rückenlehnen senkrecht. Ich wünsche uns allen eine schöne Sendung.«
    Unter mehr Lachen und mehr Applaus nahm Tessa auf ihrem gepolsterten Stuhl Platz. Die Digitaluhr neben dem Monitor zeigte
– 00. 00. 53
.
    Achtung. Noch eine Minute
, sagte die Regie.
    Das Getuschel im Publikum wurde leiser. Tessa schlug das rechte über das linke Bein, Wiebke kam noch einmal mit der Puderquaste herbeigeeilt, schob ihr eine Haarsträhne hinters linke Ohr.
    »Alles in Ordnung?«
    »Du siehst perfekt aus. Viel Spaß.«
    Noch dreißig Sekunden
.
    Tessa lächelte ein letztes Mal ins Publikum. Die Scheinwerfer waren so eingestellt, dass sie von ihrem Platz aus keine Gesichter erkennen konnte. Mindestens zehn Menschen würden morgen ihren Arbeitskollegen und Freunden erzählen, dass sie sicher waren, Tessa Simon habe die ganze Sendung über speziell sie angelächelt.
    Und Achtung
.
    Aus den Studiolautsprechern erklang die Titelmelodie. Die Digitaluhr sprang auf
00. 00. 07
. Auf dem Monitor sah Tessa ihr Gesicht von rechts, von links, frontal, sah sich einen belebten Platz überqueren, einmal verschwörerisch in die Kamera lächeln und im Studiogebäude verschwinden.
    Sie stand auf. Ihr Herz klopfte unter dem dunkelgrauen Anzug mit den asymmetrischen Nadelstreifen ein wenig schneller als sonst. Guter Joggingpuls. Hundertzehn. Hundertzwanzig. Höchstens hundertdreißig. Die rote Lampe auf Kamera 2 begann zu leuchten.
    »Guten Abend. Herzlich Willkommen bei
Auf der Couch

Dam. Dam. Dam
. Die drei Wörter gaben den Rhythmus vor, den die Sendung haben würde. Das Publikum begann zu klatschen. Eifrig. Es wollte seine Sache gut machen.
    »Vielen Dank. Sehr freundlich. Vielen Dank.« Tessa verbeugte sich in drei Richtungen. »Vielen Dank.«
    Der Applaus wurde leiser. Stille. Sehr große Stille.
    »Auf unseren heutigen Gast freue ich mich ganz besonders«, sagte Tessa und klang so aufrichtig, dass sie sich von ihrer eigenen Begeisterung anstecken ließ. »Es ist eine Frau, die etwas geschafft hat, was in diesem Land noch keine Frau geschafft hat.« Pause. »Und es ist eine Frau, die etwas schaffen will, was in diesem Land erst recht noch keine Frau geschafft hat. Begrüßen Sie Gabriele Behrens, die erste deutsche Kanzlerkandidatin.«
    Applaus. Die Politikerin kam im beigen Hosenanzug herein und nickte ins Publikum. Tessa ging zwei Schritte auf sie zu. Ihre interne Wette hatte sie gewonnen. Sie war sicher gewesen, dass Gabriele Behrens nicht in einem ihrer üblichen Kostüme mit wadenlangem Rock, sondern im Hosenanzug erscheinen würde. Nur wenige Frauen trauten sich, zu
Auf der Couch
im Rock zu kommen. »Schön, dass Sie da sind. Herzlich willkommen.«
    Tessa schüttelte der Politikerin die Hand und wartete einige Sekunden, bis sie den ihr zustehenden Applaus bekommen hatte, dann zeigte sie in Richtung der Sitzgruppe. »Frau Behrens, darf ich Sie bitten, auf unserer gemütlichen Couch Platz zu nehmen. Bitte.«
    Es war der Moment, den Tessa liebte. Zu sehen, wie der Gast sich der Couch annäherte. Ob er sich erst setzte, ob er einen Witz übers Schuhe-Ausziehen machte. Gabriele Behrens setzte sich in die Mitte und klopfte mit ihren kräftigen Händen zweimal auf das Polster, als wollte sie es vor dem Kauf
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