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Die Brut

Titel: Die Brut
Autoren: Thea Dorn
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aufgestanden war, hatte Tessa gewusst, dass sie mit diesem Mann schlafen würde. Als die Champagnervorräte in der Lobby des Senders aufgebraucht waren, hatten sie in der Stammbar nebenan weitergetrunken, schließlich waren sie endlos durch die Stadt gelaufen, um das, was nicht mehr aufzuhalten war, aufzuhalten. Im Morgengrauen waren sie am Ufer des Flusses gelandet, der hinter dem Sendegebäude entlangfließt. Das Gras war nass, die Männer auf den vorbeifahrenden Lastkähnen johlten. Als es endgültig hell wurde, trennten sie sich, ohne etwas zu sagen. Tessa war nach Hause gefahren, um ihren Zweitausend-Mark-Anzug in den Müll zu werfen. Sebastian war nach Hause gefahren, um seiner Lebensgefährtin zu erklären, dass er sie verlassen würde.
    Der Laptop erwachte summend. Im blaugrauen Rahmen bauten sich die Dokumente auf.
    Neugier ist ein eigenwilliges Tier. Als Mädchen hatte Tessa manchmal mit dem Hund der Nachbarn Gassi gehen müssen. Und obwohl sie irgendwie verstand, dass er an jeder Ecke stehen bleiben und schnüffeln wollte, hatte sie ihn stets weitergezerrt. So ging es ihr jetzt mit der Neugier. Sie überflog die Namen der Dokumente, die Sebastian auf der Festplatte gespeichert hatte. Geschäftsbriefe. Rechnungen. Steuerkram. Alles langweilig. Keine Tagebücher. Keine
Gedanken
. Sebastian war nicht der Mann, der sein Inneres auf der Festplatte präsentierte. Zufrieden startete Tessa das altmodische E-Mail-Programm und loggte sich ein.
Tasso
. Wenn sie sich recht erinnerte, der Titel eines Theaterstücks.
    Begleitet von einer kurzen elektronischen Fanfare landete Bens Mail im Posteingang. Zusammen mit drei weiteren Mails.
    Die Neugier richtete ihre Ohren auf.
    Abovetheline: »Anfrage«
    KHerz: »unser termin nächste woche«
    ColumbiaTriStar: »Ihre Flugdaten«
    Post von der Agentur. Von einem Journalisten, der ein Portrait über Sebastian schreiben wollte. Von der Filmproduktionsfirma, für die Sebastian gerade drehte.
    Die Neugier kreuzte die Pfoten und ließ sich unter dem Schreibtisch nieder.
    Der Computer begann, das Interview mit Gabriele Behrens herunterzuladen. Gabriele Behrens war seit einem Monat Kanzlerkandidatin. Die erste Kanzlerkandidatin, die die Sozialdemokraten aufgestellt hatten. Die erste Kanzlerkandidatin überhaupt. Das Volk wusste noch nicht, ob es Gabriele Behrens lieben sollte. Und Gabriele Behrens schien noch nicht zu wissen, ob sie das Volk lieben sollte. Es würde eine gute Sendung werden morgen.
    Nein, ich glaube nicht, dass die bisherige Regierung begriffen hat, was Familienpolitik im 21. Jahrhundert bedeutet,
las Tessa
. Wir befinden uns in einer Zeit des Umbruchs. Wir müssen den Blick nach vorn richten. Aber trotzdem und gerade deshalb muss uns bewusst bleiben, welches die traditionellen Werte sind, von denen wir herkommen, und die das Fundament auch eines jeden neuen Modells bleiben müssen.
    Ihr Blick wanderte zu dem Foto zurück. Es war unheimlich, wie sehr Sebastian auf der Bühne schwitzte. Im Bett tat er das nicht.
    Tessa druckte das Interview aus, um es in ihr Arbeitszimmer mitzunehmen, und löschte die Mail, die Ben ihr geschickt hatte. Sie war bereits aufgestanden, da fiel ihr ein, dass dieses Programm, mit dem sie früher selbst gearbeitet hatte, die Mails nicht wirklich vernichtete, sondern zunächst bloß zwischenlagerte. Auch wenn sie zum ersten Mal in ihrem Leben mit einem Mann Bett und Tisch teilte, bedeutete dies nicht, die Trennung der Laptops aufzugeben. Sie öffnete den Ordner
Gelöschte Mails
. Und entdeckte außer der Nachricht von Ben eine zweite.
    »Warnung.« Absender: CDembruch.
    Die Neugier war mit einem Satz auf den Beinen und kläffte.
CDembruch.
Carola Dembruch. Sebastians Ex. Tessa starrte auf den Bildschirm. Die Neugier zerrte, aber Tessa hielt sie fest an der Leine.
Warnung
. Was sollte das schon für eine Warnung sein? Sicher eine von diesen lächerlichen Viruswarnungen, die unterbeschäftigte Computerfreaks in die Welt setzten, weil sie Pickel hatten und keinen hochkriegten. Carola hatte Sebastians Mail-Adresse sicher immer noch in ihrem Adressbuch gespeichert und eine Viruswarnung an alle weitergeleitet. So musste es sein.
    Tessa atmete aus und rieb sich die Augen. Es hatte nichts zu bedeuten. Deshalb hatte Sebastian die Nachricht auch einfach bei den
Gelöschten Mails
herumliegen lassen.
    Sie stand auf und begann, im Zimmer umherzugehen. Im Regal vor ihr war eine Schachtel, auf der
Platonow
stand. Daneben
Nathan
. Daneben
Stuttgart 1976/77
.
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