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Die Brooklyn-Revue

Die Brooklyn-Revue

Titel: Die Brooklyn-Revue
Autoren: Paul Auster
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umschlungen.»
    «Sind sie aufgewacht?»
    «Nein. Ich habe die Tür so leise wie möglich wieder zugemacht und bin auf Zehenspitzen die Treppe runter. Was soll ich nur machen? Das nimmt mich so mit, am liebsten würde ich mir die Pulsadern aufschneiden. Der arme Tony. Zum ersten Mal, seit er von mir gegangen ist, bin ich froh, dass er tot ist. Froh, dass er das nicht erleben muss   … diese
schreckliche Sache
. Das hätte ihm das Herz gebrochen. Seine eigene Tochter schläft mit einer Frau. Wenn ich nur daran denke, kommt’s mir hoch.»
    «Viel wirst du da nicht machen können, Joyce. Nancy ist eine erwachsene Frau, sie kann schlafen, mit wem sie will. Für Aurora gilt dasselbe. Die beiden haben schlimme Zeiten hinter sich. Ihre Ehen sind gescheitert, und wahrscheinlich haben sie von Männern fürs Erste genug. Das heißt nicht, dass sie lesbisch sind, und das heißt auch nicht, dass es so bleiben wird. Wenn sie sich gegenseitig ein bisschen trösten können – was ist schon dabei?»
    «Es ist widerlich, es ist gegen die Natur. Ich begreife nicht, wie du das so gelassen sehen kannst, Nathan, wirklich nicht. Als ob dir das gar nichts ausmacht.»
    «Jeder Mensch hat seine Gefühle. Ich kann mir doch kein Urteil darüber anmaßen, was falsch und richtig ist.»
    «Du redest wie ein Kämpfer für die Rechte der Schwulen. Als Nächstes wirst du mir erzählen, dass du auch schon mit Männern geschlafen hast.»
    «Eher schneide ich mir den rechten Arm ab, als dass ich mit einem Mann ins Bett gehe.»
    «Und warum verteidigst du dann Nancy und Aurora?»
    «Erstens, weil sie nicht ich sind. Und zweitens, weil sie Frauen sind.»
    «Wie soll ich das verstehen?»
    «Ich weiß auch nicht so genau. Da ich mich selbst zu Frauen hingezogen fühle, kann ich vielleicht verstehen, warum eine Frau sich zu einer anderen hingezogen fühlt.»
    «Du bist ein Schwein, Nathan. Das erregt dich wohl auch noch?»
    «Das habe ich nicht gesagt.»
    «Tust du so was, wenn du allein zu Hause bist? Siehst du dir lesbische Pornofilme an?»
    «Hmmm. Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Könnte unterhaltsamer sein, als an meinem blöden Buch herumzuschreiben.»
    «Lass den Unsinn. Ich bin am Rande eines Nervenzusammenbruchs, und du musst Witze reißen.»
    «Weil uns das nichts angeht, darum.»
    «Nancy ist meine Tochter   …»
    «Und Rory ist meine Nichte. Na und? Die beiden gehören uns nicht. Wir haben sie nur geliehen.»
    «Was soll ich bloß machen, Nathan?»
    «Du könntest so tun, als wüsstest du von nichts, und die beiden in Frieden lassen. Du könntest ihnen aber auch deinen Segen geben. Es muss dir ja nicht gefallen, aber du hast nur diese beiden Möglichkeiten.»
    «Ich könnte sie auch aus dem Haus werfen.»
    «Sicher, das könntest du. Und dann würdest du es jeden Tag bis ans Ende deines Lebens bereuen. Tu das nicht, Joyce. Du musst dich arrangieren. Halt die Ohren steif. Lass dich nicht abspeisen. Wähle immer brav die Demokraten. Fahr mit dem Rad im Park spazieren. Träum von meinem perfekten Körper. Nimm deine Vitamine. Trink täglich acht Gläser Wasser. Drück den Mets die Daumen. Sieh dir jede Menge Filme an. Überanstreng dich nicht bei der Arbeit. Fahr mit mir nach Paris. Geh ins Krankenhaus, wenn Rachel ihr Kind bekommt, und halte meinen Enkel in den Armen. Putz dir nach jeder Mahlzeit die Zähne. Geh nicht bei Rot über die Straße. Verteidige den Kleinen. Sei selbstbewusst. Denk dran, wie schön du bist. Denk dran, wie sehr ich dich liebe. Trink täglich einen Scotch on the rocks. Atme tief durch. Halte immer die Augen offen. Meide fettiges Essen. Schlafe den Schlaf der Gerechten. Denk dran, wie sehr ich dich liebe.»
    Ihre Reaktion auf diese Neuigkeit war ungefähr so, wie ich erwartet hatte, aber immerhin hatte sie nicht mir die Schuld an Rorys Verhalten gegeben, und das war zu der Zeit für mich das Wichtigste. Ich bedauerte, dass sie diese Tür aufgemacht hatte, bedauerte, dass sie die Tatsachen auf so schockierende, unauslöschliche Weise erfahren hatte, aber irgendwann würde sie sich mit der Situation abfinden müssen, ob sie wollte oder nicht. Das Essen wurde gebracht, und solange wir uns dann darauf konzentrierten, waren Nancy und Aurora kein Thema mehr. Ich weiß noch, ich hatte an diesem Abend ungewöhnlich großen Hunger und schlang die Vorspeisen und die scharfen Shrimps mit Thaibasilikum in wenigen Minuten in mich hinein. Dann schalteten wir den Fernseher ein und sahen uns einen Western von 1950 an,
Blutiger
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