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Die Betäubung: Roman (German Edition)

Die Betäubung: Roman (German Edition)

Titel: Die Betäubung: Roman (German Edition)
Autoren: Anna Enquist
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hatten Angst, dass sie drankommen könnten. Sie hatten ein schlechtes Gewissen, wenn sie die aufgegebenen Artikel nicht gelesen hatten, und alberten herum wie Grundschüler. Tagsüber leisteten sie eine schwere und verantwortungsvolle Arbeit, abends fielen sie in eine Rolle zurück, die nicht zu ihrem Alter passte. Gar nicht so unangenehm oft. Aber schon seltsam.
    Es gab auch eine andere Seite: Er hatte dort viel gelernt und die Gelegenheit gehabt, sich in unterschiedlichen Ausbildern zu spiegeln, ein Gefühl dafür zu entwickeln, ob er so werden wollte oder nicht. Er war gezwungen gewesen, zu reflektieren und seinen eigenen Weg zu finden, und dieser Prozess hatte ihn zu dem Therapeuten geformt, der er heute war. Die Freundschaft zu Peter war dabei von unschätzbarem Wert gewesen. Mit gegenseitiger Hilfe war es ihnen gelungen, sich von der vorgeschriebenen analytischen Identität zu lösen, und begeistert hatten sie ihr neues Wissen in die psychiatrische Weiterbildung eingebracht, in der sie beide tätig waren. Peter war es früher als ihm selbst geglückt, die Bedeutung der psychoanalytischen Vereinigung zu relativieren, weil die Familie für ihn von größerer Wichtigkeit war. Kinder gehen vor.
    Drik hatte mit dem unerfüllt bleibenden Kinderwunsch, dem Misserfolg, dem Scheitern jahrelang ganz gut umgehen können. Er hatte sich an Hannas Unerschütterlichkeit aufgerichtet. Und als die Phase der Fruchtbarkeitsuntersuchungen vorbei war, hatten sie ihr gemeinsames Geheimnis stillschweigend für sich behalten. Eine merkwürdige Erleichterung hatte ihn damals erfasst. Es musste nicht mehr sein.
    Unterdessen war Roos zur Welt gekommen. Drik sieht noch vor sich, wie Hanna das Baby im Arm hielt, ein stehendes Bild mit der Klarheit eines Jan van Eyck, in kräftigen Farben, ohne Ton. Er selbst stand, von sinnlosen, bleischweren Schuldgefühlen gepeinigt, in der Tür, hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Angst. Sie wird in eine unbehandelbare Depression stürzen, apathisch werden, mich verstoßen. So dachte er. Das Baby griff nach Hannas Finger und führte ihn an seinen Mund. Saugte daran. Hanna lachte und schaute ihn an. Sie sah glücklich aus.
    Er hatte daran glauben wollen. Sie hatten sich beide für ihre kleine Nichte ins Zeug gelegt, waren neben den Eltern zu wichtigen Bezugspersonen für Roos geworden. Peter und Suzan hatten sie großherzig und wie selbstverständlich an allen Familienfeierlichkeiten teilhaben lassen. Geburtstage, Sinterklaas, Ferien.
    Jede innige Beziehung birgt Schmerz in sich. Roos ist an Hannas Krankheit fast kaputtgegangen. Anfangs wollte sie es nicht wahrhaben und ging hartnäckig davon aus, dass sie wieder gesund werden würde. Als sie daran nicht mehr festhalten konnte, brachte sie es kaum noch fertig, ihre Tante zu sehen. Wenn sie kam, sagte sie kein Wort, sondern stürmte gleich wieder aus dem Krankenzimmer hinaus in die Küche und weinte untröstlich. Sie wandte sich von ihrer Mutter ab – die war Ärztin und konnte das Unheil doch nicht verhüten. Roos fühlte sich verraten. Zwanghaft und überstürzt suchte sie sich eine eigene Wohnung, sie musste weg von zu Hause, so schnell wie möglich. Suzan ließ es geschehen, schließlich war das Kind ja neunzehn und studierte schon. Peter machte sich Sorgen, wollte seiner Tochter aber keine Steine in den Weg legen. Er tat alles dafür, den Kontakt zu ihr nicht zu verlieren.
    Das Arbeitsbündnis gewährleisten, denkt Drik. Er muss schmunzeln und merkt, wie sehr er die Gesichtsmuskeln angespannt hat. Das Arbeitsbündnis hat Priorität, das darf ich nicht vergessen. Keiner hat etwas davon, wenn der Patient wegläuft. Und das tut er, wenn du ihn mit Ansichten und Erkenntnissen konfrontierst, bevor er dir ausreichend vertraut. Also: Nicht alles sagen, was du dir denkst, verkneif dir das, versuch zu erspüren, was dein Patient in diesem Moment braucht.
    Es ist zwei Minuten nach elf. Der Patient ist entweder spät dran, oder Driks Uhr geht vor. Er erhebt sich und spaziert durch den Flur. Auf dem lackierten Holz des Fußbodens machen seine Sohlen ein klatschendes Geräusch. An der Schwelle zu seinem Sprechzimmer bleibt er stehen und schaut.
    Was für eine abgewohnte Rumpelkammer eigentlich. Dieser Therapeutensessel mit den blank gewetzten Armlehnen und der speckigen Kopfstütze. Mit der Mulde, die er in zwanzig Jahren hineingesessen hat. Im Fußbereich verschlissene Stellen im Teppich, eingetretene Pfade zu Patientensessel und Schreibtisch. Die
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