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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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besänftigen, macht er ihn wütend. Er weiß nicht mehr weiter, die Enge der Schweiz ist niederdrückend, auch in seiner von außen ideal erscheinenden Ehe gibt es Probleme – vor allem weiß er nicht, was schreiben. Ihm ist fürs erste der Stoff ausgegangen. In Zürich gilt er plötzlich als arriviert. Nizon ist sechsundvierzig und lernt auf einer Lesereise eine junge Frau kennen. Odile ist noch Studentin und – bedauerlicherweise – die beste Freundin seiner Tochter. Die beiden verbringen in London eine Nacht und danach leidet Nizon an etwas, was er angemessen drastisch »Liebesvergiftung« tauft. Er bricht nach Monaten, in denen er sich wie ein wild gewordenes Tier aufführt, im Rausch Lokale verwüstet und Leute attackiert, alle Brücken zu seinem erfolgreichen Schweizer Leben ab und flieht nach Paris, wo ihm eine Tante eine kleine Hinterhauswohnung in einem Einwandererquartier hinterlassen hat. Nizon balanciert wieder einmal am Abgrund. Er ist durch Odile für jedes planmäßige Schreiben blockiert, hockt beschäftigungslos in der fremden Stadt und droht zu verkommen, ein Gewesener, aber inzwischen leider Verrückter zu werden. Trotzdem hegt er die ehrgeizigsten künstlerischen Hoffnungen: »Ich hatte das Gefühl, daß aus meinem Untergang etwas vergleichbar Vollkommenes wie eine Partitur von Mozart emporsteigen müßte, etwas Unzerstörbares und absolut Vollendetes.« Ein halsbrecherischer Anspruch. Über zwei Jahre steckt er angesichts solcher Erwartungen in der tiefsten Depression. Der Kampf um Odile scheint aussichtslos (doch er wird ihn gewinnen), sein letzter Halt ist das tägliche »Warmschreiben«, »Blindschreiben«, ein Vergegenwärtigen des eigenen Daseins mit Sprache, ziellos, einfach um nicht aus der Welt zu fallen oder »in Einsamkeit zu ertrinken«. Tatsächlich schreibt er wie zufällig so sein schönstes Buch, einen Paris-Roman, wie er nach Miller oder He
mingway kaum mehr möglich schien, ein Buch aus nichts als Lebensgefühl, unverwechselbar in seiner Eigenheit und gleichzeitig geräumig und groß, so daß es jedermann offensteht. Im Rückblick erscheint es, als hätte sein Instinkt Nizon den Ausbruch nach Paris diktiert, um so seinen größten Stoff zu finden. Mit Das Jahr der Liebe gelingt Nizon etwas, was er seit seinen Anfängen anstrebt: den schöpferischen Prozeß im Vollzug sichtbar zu machen. Die Schreibzeit in Das Jahr der Liebe entspricht der beschriebenen Lebenszeit. Lesend wohnt man so der Entstehung eines Kunstwerkes bei, ist Teilnehmer dessen, was Paul Nizon das letzte und einzige Wunder nennt: die Schöpfung der Welt aus dem Ich. Die Beschreibung einer Busfahrt durch Paris ist dafür exemplarisch. Auf fünfzehn Seiten läßt Nizon aus dem Wirbel von Stadtimpressionen, Traum-, Lektüre- und Lebenserinnerung ein so reich gesättigtes Lebensgefühl entstehen, daß man sich beim Lesen auf der Welt wie selten fühlt.
    Obwohl Nizon sich auch von der Kunst kein Heil verspricht, er in ihr nichts Religiöses oder Ideologisches erkennen will, sondern nur eine »flüchtige Vereinigung mit allem Bestehenden«, hat sein Schreiben eine metaphysische Dimension (einen ganz unbeschwerten Ausdruck findet sie in den Existenzromanen Hund und Das Fell der Forelle ). Es liegt ihm die Überzeugung zugrunde, daß nur das schöpferische Leben menschenwürdig ist. Das Leben ist ein Geschenk, dem man sich würdig erweisen muß, es ist eben zu gewinnen oder zu verlieren. Man gewinnt es, indem man den Reichtum der Welt in der Arena des eigenen Ichs zur Aufführung bringt. Und verliert es, indem man begriffsstutziger Zuschauer bleibt, der in Ermangelung von Worten und Einbildungskraft nur einen beschämend geringen Teil dessen wahrnimmt, was ihn umgibt. Aus nichts als Einbildungskraft besteht dann Nizons vielleicht bestes Buch. Im Bauch des Wals ist reine Literatur, sprachliches Klima, ein
Duft aus Stimmen, eine Atmosphäre aus Worten. Nizons Sprache wird hier endgültig zum Ereignis. Seine Worte sind so ausdrucksstark und genau, sie fächern einen Sachverhalt so sinnfällig auf, daß man glaubt, die Welt endlich einmal in ihrer ganzen Fülle wahrzunehmen.
    Wie es zu so einer reinen, gleichsam destillierten Sprache kommt, zeigen vor allem die Journale. In diesen verdichtet Nizon Partikel erlebter Wirklichkeit so lange, bis sie
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