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Die Auserwählte: Roman (German Edition)

Die Auserwählte: Roman (German Edition)

Titel: Die Auserwählte: Roman (German Edition)
Autoren: Jennifer Bosworth
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davongetragen – von einer Glaswand, die in ihrer Nähe zersplittert war, als das Gebäude einstürzte –, von denen die meisten inzwischen jedoch fast verheilt waren. Körperlich ging es ihr den Umständen entsprechend gut. Ihre geistige Gesundheit war eine andere Sache.
    Das Internet war – wie auch unsere Wasser- und Stromversorgung und unser Kabelanschluss – seit dem Erdbeben immer wieder ausgefallen, wenn die Verbindung jedoch funktioniert hatte, hatte ich Moms Symptome recherchiert, bis ich herausgefunden hatte, worunter sie litt: unter akuter Belastungsreaktion, der bösen Zwillingsschwester posttraumatischer Belastungsstörung auf Steroiden, hervorgerufen durch ein traumatisches Ereignis, das man in Form von Flashbacks immer wieder erlebt, begleitet von Angstattacken, Illusionen, emotionaler Distanziertheit und sogar Gedächtnisverlust.
    Mom zeigte alle diese Symptome und noch einige andere. Eigentlich hätte sie im Krankenhaus sein sollen, unter Aufsicht eines Psychiaters und eines ganzen Teams von Schwestern, die sich rund um die Uhr um sie kümmerten. Doch die Krankenhäuser waren voll mit Patienten mit lebensbedrohlichen Verletzungen, voll mit Menschen, die eine gebrochene Wirbelsäule, zerquetschte Gliedmaßen oder infizierte Verbrennungen hatten. Mit Menschen, die an sogenanntem »Erdbebenfieber« litten, einer Immunstörung, ausgelöst von Schimmel, der während eines Bebens aus dem Boden austritt. Mit Menschen, die aufgrund des Nahrungs- und Wassermangels in der Stadt so ausgehungert und dehydriert waren, dass sie nur noch künstlich ernährt werden konnten. Es gab keine Betten für diejenigen mit funktionierendem Körper, aber schadhaftem Gehirn.
    Das Positive an der Sache war, dass eine akute Belastungsreaktion normalerweise höchstens vier Wochen anhielt, und seit dem Erdbeben waren auf den Tag genau vier Wochen vergangen. Drei Wochen und vier Tage, seit Rettungskräfte Mom unter mehreren Tonnen Schutt herausgezogen hatten. Es war ein Wunder, dass sie überhaupt noch geatmet hatte. Die Menschen, die mit ihr gefunden worden waren, hatten kein solches Glück gehabt. Einige von ihnen waren sofort erdrückt worden. Andere waren erstickt, und ihr Tod hatte meiner Mutter das Leben gerettet. In dem kleinen Hohlraum unter den Trümmern hatte es nicht genug Sauerstoff gegeben.
    Vier Wochen waren seit dem Erdbeben vergangen, die mir vorkamen wie viertausend.
    »Mom?«, sagte ich noch einmal. Ich sprach leise, sanft, als könnten meine Worte sie verletzen, wenn ich sie zu laut äußerte. Sie erstarrte, zog die Schultern hoch und drehte den Kopf zu mir. Da sie ihr Haar schon seit Ewigkeiten nicht mehr gewaschen hatte, war es so fettig, dass es aussah, als wäre es nass. Die Narben in ihrem Gesicht traten als wächserne lachsfarbene Linien auf ihrer Haut hervor, die seit Wochen keine Sonne mehr gesehen hatte. Ich musste mir jedes Mal, wenn ich sie sah, Mühe geben, nicht zusammenzuzucken. Bei mir war zumindest das Gesicht von den Blitznarben verschont geblieben, die den Rest meines Körpers überzogen. Moms Gesicht dagegen … Wenn sie nicht bei jedem Blick in den Spiegel an das Erdbeben erinnert werden wollte, würde sie ihre Narben durch einen plastisch-chirurgischen Eingriff entfernen lassen müssen.
    »Wir wurden bereits Zeuge von Gottes Zorn«, fuhr Prophet fort. »Nur Minuten bevor Er Seine Faust herabsausen ließ, hat Er mir zugeflüstert, dass Er Los Angeles erbeben lassen würde. Das Ende von allem steht unmittelbar bevor, Brüder und Schwestern, und es wird genau hier, in Los Angeles, seinen Anfang nehmen. Denn dies ist nicht die Stadt der Engel, sondern eine Stadt, die Teufel aus ihren Villen in Hanglage oder aus ihren riesigen Studios regieren. Sie verbreiten Korruption wie eine Seuche über eure Fernsehbildschirme, über eure Kinos und über das Internet. Ist es in einer derart unmoralischen Stadt ein Wunder, dass unsere jungen Menschen – diejenigen, die sich selbst ›Rover‹ nennen – tanzen und trinken und auf den Gräbern der Toten in der Wüste herumtollen?«
    Ich wandte den Blick von Prophets milchigen Augäpfeln ab und drehte die Lautstärke herunter. Sein schneeweißes Haar fiel ihm über die Schultern, dick und eisgrau wie der Pelz eines Eisbären, obwohl er nach seinem erdnussbutterglatten, gebräunten Gesicht zu schließen nicht älter als fünfunddreißig sein konnte. Und nach dem blendend weißen Halbmond von einem Lächeln. Wenn ich ihn anblickte, sah ich jedoch in erster
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