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Die Auserwaehlte

Die Auserwaehlte

Titel: Die Auserwaehlte
Autoren: Thomas Knip
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sterblichen Frau. Damit schien jedwede Gefahr abgewendet zu sein. Der Preis schien gering im Vergleich zu dem Nutzen und dem Frieden, der damit gewonnen werden konnte.“
    Menasseb ließ seinen Kopf schwer auf die Brust sinken. „Niemand konnte ahnen, wie schnell die lodernde Wut Sekhmets einen Menschen verzehren würde. Ältere Frauen, die sich freiwillig opferten, überlebten den Hass keinen Monat. Nur junge Frauen brachten den Widerstand auf, der Göttin über Jahre hinweg zu trotzen.“
    Mit einem bitteren Zug um die Lippen sah der Priester Talon an. „Sekhmet versprach uns die Unsterblichkeit, solange wir sie in die Welt der Lebenden zurückholten. Seit über dreitausend Jahren suche ich junge Frauen aus, die ihrer Wut standhalten müssen. Seit all dieser Zeit suche ich nach einer Antwort …“
    Talons Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Er hatte es geahnt. Menasseb hatte die ganze Zeit von sich selbst erzählt, von einer Vergangenheit, die für die Welt um ihn herum längst zu Staub zerfallen war. Abwartend saß er dem Mann mit den harten Gesichtszügen gegenüber.
    „… einer Antwort, die mir sagt, ob meine Entscheidung richtig war“, vollendete der Priester den Satz und atmete hörbar aus.
    „Die ersten Jahre blieb alles in einem Lot. Wir siedelten uns an und errichteten eine Kolonie, wohl wissend, dass wir damit nicht dem Pharao dienten, sondern alleine Sekhmet und ihrem Willen. Doch dann wurde uns der Preis für den Handel offenkundig. Sekhmet schenkte denen, die ihr dienten, die Unsterblichkeit. Gleichzeitig aber nahm sie uns die Fruchtbarkeit. Und die Zahl der Frauen nahm ab.“
    Ein Ruck schien durch den Körper des Priesters zu gehen. Sein Mienenspiel wurde zu einer unbeteiligten Maske.
    „Also entschlossen wir uns, die Trägerinnen für die Göttin in anderen Völkern zu suchen.“
    „Ihr habt Streifzüge in die umliegenden Stämme gemacht und ihnen die Frauen geraubt“, übersetzte es Talon in eine deutlichere Sprache. „So, wie ihr diese Mädchen, Nayla, entführt habt.“
    „Willst du über uns richten, Fremder?“, wandte sich Menasseb nicht ohne Spott an Talon. Wie um seine Autorität zu wahren, nahm er eine würdevolle Haltung an. „Es ist nicht an uns, dem Willen von Ra und seinem Zorn zu trotzen.“ Doch gleich darauf schüttelte er selbst unwillig den Kopf.
    „Lass uns nicht darüber streiten. Wir müssen das Mädchen zurückbekommen. Im Augenblick stellt sie eine Gefahr für die Menschen dar. Noch kämpft ihr eigenes Ich gegen den Willen Sekhmets an, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie verliert. Dieses Kind … es ist eines der wenigen, das durch die Wut nicht verzehrt wird. Es geschieht selten, ganz selten.“
    Der Hohepriester verließ die kleine Kammer und deutete Talon an, ihn weiter zu begleiten. Über mehrere flach abfallende Stufen gelangten sie in die Hauptkammer des Tempels. Trotz ihrer weiten Abmessungen wirkte sie durch die niedrige Decke fast gedrungen und erdrückend. Weit am anderen Ende der Halle konnte er ein durch mehrere breite Ölbecken erhelltes Podest erkennen, auf dem eine fast mannshohe Figur aus Bronze stand.
    Sie stellte eine junge Frau mit schlankem Körper dar. Ihr Kopf war durch die Züge eines Löwenhauptes stark verfremdet, das durch eine stilisierte Sonnenscheibe gekrönt wurde. Auch ohne weitere Erklärung war Talon bewusst, dass es sich hierbei um ein Bildnis Sekhmets handelte.
    Nur wenige Männer hielten sich in der Halle auf. Sie hatten kahl geschorene Köpfe und waren in einfache, weiße Leinengewänder gehüllt und widmeten sich offenbar einem rituellen Prozess, denn selbst Menasseb hielt sich abseits von ihnen und wollte sie nicht stören.
    „In diesem Mädchen hat die Göttin eine Trägerin gefunden, die auf ihre Kraft reagiert. Die sich ihr angleicht, zu einem lebenden Abbild Sekhmets wird. Es gibt nur eine Möglichkeit, dem Einhalt zu gebieten: Wir müssen eine neue Trägerin für Sekhmet bereitstellen, auf die die Göttin überwechseln kann!“
    Der Priester unterstützte seine Worte mit einer lebendigen Gestik. Beschwörend reckte er seine Hände Talon entgegen und blickte ihn mit leuchtenden Augen an. Der hochgewachsene Mann sah den Ägypter lange und unschlüssig an. Schließlich nickte er leicht.
    „Gut. Ich helfe euch, das Mädchen zu finden, um es von dieser … Göttin zu befreien.“
    „Nichts anderes wollen wir alle“, antwortete der Priester orakelhaft. Talon zuckte bei dem Gesichtsausdruck des Mannes innerlich
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