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Die Augenblicke des Herrn Faustini - Roman

Die Augenblicke des Herrn Faustini - Roman

Titel: Die Augenblicke des Herrn Faustini - Roman
Autoren: Haymon
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mehr hinaus. In der Küche stoße ich auf einen Einkaufskorb voll mit lauter brauchbaren Sachen. Putzmittel, Taschentücher, eine Glühbirne, sechzig Watt. Einen Augenblick frage ich mich, wer die Sachen gebracht hat. Mir fällt ein, dass ich heute Früh hinaus bin zum Supermarkt. Ich erinnere mich, dass ich auf dem Rückweg den Einkaufskorb hin- und hergeschwungen und dazu gepfiffen habe. Jetzt steht der Einkaufskorb wie ein Ding aus einer anderen Welt da. Um den Einkaufskorb herum der Riss. Um das Haus herum der Riss. Um den Herd herum der Riss. Ich koche, doch ich merke kaum, dass ich koche. Ich lasse die Herdplatte eingeschaltet. Ich setze mich an den Tisch und esse. Das Essen erinnert mich daran, dass ich es bin, der isst. Aber mit der Zeit vergesse ich es wieder und kaue vor mich hin, ohne es wahrzunehmen. Erst die glühende Herdplatte holt mich zurück, aber nur solange sie glüht.
    Leben Sie alleine?, fragte Frau Nussbächle.
    Damit hatte Herr Faustini nicht gerechnet. Sein Mund öffnete sich, verharrte so und schloss sich im Leeren. Herr Faustini nahm einen zweiten Anlauf: Ich lebe alleine mit meinem Kater. In letzter Zeit hat der Kater allerdings mehr bei Frau Gigele gewohnt.
    Sind Sie oft einsam?, fragte Frau Nussbächle.
    Zurzeit bin ich ja meistens zwei, sagte Herr Faustini. Einer, der etwas tut, und der andere, der bemerkt, dass einer etwas tut. Und auch noch zu sich selbst darüber redet. Da bleibt nicht viel Zeit fürs Einsamsein.
    Was möchten Sie jetzt in diesem Augenblick am allermeisten?, fragte Frau Nussbächle.
    Wenn ich mir etwas wünschen könnte, sagte Herr Faustini, dann dass der Riss verschwindet. Dass ich, wenn ich im Garten die Hecke schneide, einfach nur die Hecke schneide, ohne dass ich mir selber dabei zusehe und auch noch meinen Senf dazu abgebe. Ich, der Mann im Riss. Der Kater hat das gleich gemerkt. Drum zieht er jetzt die Gesellschaft von Frau Gigele vor. Wo er früher höchstens in ihrem Garten auf Pirsch gegangen ist.
    Nach seiner ersten Therapiestunde kam es Herrn Faustini so vor, als hätte er während der Sitzung einen Außenspiegel montiert bekommen, damit er nichts übersehe. Nicht nur Autofahrer kannten tote Winkel. Der Mensch lief allgemein Gefahr, seine eigenen Lebensverhältnisse nicht zu begreifen. Im Rückspiegel konnte man wenigstens sehen, was sich von hinten näherte. Einen Spiegel, um den Riss zum Verschwinden zu bringen, gab es freilich keinen. Der Ernst, mit dem Frau Nussbächle am Ende der Sitzung mit Herrn Faustini vier weitere vereinbart hatte, hatte ihn verblüfft. Er hatte erwartet, dass sie ihn mit seinem Gerede vom Riss und von der Indirektheit des Lebens verlachen und davonjagen würde. Schließlich hatte sie ihre Zeit doch nicht gestohlen. Frau Nussbächle aber tat so, als sei sein Gerede das Übliche, als gäbe es dazu nicht viel mehr zu sagen und zu tun, als die Daten der weiteren Therapiestunden festzulegen.
    Herr Faustini stieg einmal die Woche in Dornbirn aus dem Zug, ging die ungeliebte Bahnhofstraße entlang und dachte an nichts. So hatte er es sich vorgenommen: an nichts denken. Einfach nur die Bahnhofstraße entlanggehen. Die Bahnhofstraße tat ihm freilich nicht den Gefallen, ihn an nichts denken zu lassen. Eigens zur Dekoration für Herrn Faustinis wöchentliches Bahnhofstraßenschlendern fuhren Autos auf und ab, und in den Autos saßen Menschen, die nichts Besseres zu tun hatten, als die ödeste Bahnhofstraße weit und breit entlangzufahren. Ein Kiosk, ein Reisebüro, ein Internetcafé, eine Bank, die geschlossenen Altdeutschen Stuben: Die öde Installation der Wirklichkeit war nicht stark genug, um Herrn Faustinis Geist so sehr zu fesseln, dass er sich nicht länger selbst zusah. Es half nichts. Die Autofahrer konnten getrost nach Hause fahren. Sie waren zu nichts nütze.
    Die Wochen vergingen. Der Sommer wurde reif und überreif, an den Bäumen vergilbten die Blätter, während eine eigene Stille um sie stand. Der Himmel gewann an Tiefe, dass es Herrn Faustini manchmal war, als fiele er hinein in diesen offenen Schlund, der sich hinter dem Blau auftat, das doch nur das Schwarz des Weltalls verbarg. Die Stille, die immer mehr über dem Land anwuchs, breitete sich in kleinen Dosen auch in Herrn Faustini aus. Seit Wochen redete er nun auf dem Patientenstuhl vis-à-vis von Frau Nussbächle in immer neuen Umschreibungen von ein und derselben Sache: dass sein Leben aus dem Tritt geraten war, dass er wieder vom Herd an den Tisch, vom Tisch an die
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