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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht
Autoren: Thomas Glavinic
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wieder gehen, da fiel ihm das Messer ein.
    Lange mußte er nicht suchen. In der Schublade neben der Hausbar bewahrte der Vater seine Andenken an den Krieg auf. Das EK I, das EK II, die Nahkampfspange. Sturmabzeichen, Verwundetenabzeichen, Gefrierfleischorden, Jonas kannte das alles, als Kind hatte er seinem Vater oft beim Reinigen zugeschaut. Ein Adreßbuch, Ausweise, Briefe von Feldkameraden. Drei Fotos, auf denen der Vater mit anderen Soldaten in dunklen Räumen hockte und ein so fremdes Gesicht hatte, daß sich Jonas nicht erinnern konnte, ihn je so gesehen zu haben. Und das Messer lag auch in der Lade. Er nahm es an sich.
    Das letztemal hatte er den Tiergarten Schönbrunn anläßlich eines Betriebsausfluges besucht. Es war recht fröhlich zugegangen. Viele Jahre lag das zurück. Er konnte sich nur noch vage an schmutzige Käfige erinnern und an ein Café, in dem sie nicht bedient worden waren.
    In der Zwischenzeit hatte sich viel verändert. In den Zeitungen las man, Schönbrunn sei der schönste Zoo Europas. Jährlich kam eine neue Sensation hinzu. Zwei Koalas etwa oder andere rare Tiere, die alle Wiener, die ein Kind im begeisterungsfähigen Alter hatten, zwangen, in den Tierpark zu pilgern. Jonas war es nie eingefallen, sich am Sonntag vor dem Raubtiergehege oder dem Insektarium anzustellen. Nun hielt er hinter den Kassen bei den Metallsperren, an denen es für den Wagen keine Durchfahrt gab, weil er sich vergewissern wollte, ob außer den Menschen auch die Tiere verschwunden waren.
    Er stieg erst aus, nachdem er einige Minuten lang gehupt hatte. Er steckte das Messer ein. Auch den Zangenarm nahm er mit.
    Auf dem Kiesweg knirschten seine Schritte. Die Luft war eine Spur klarer als im Stadtzentrum. Der Wind fing sich in den die Anlage umstehenden Bäumen. Hinter dem Zaun, der laut Beschilderung das Giraffengehege begrenzte, regte sich nichts.
    Seine Füße trugen ihn nicht weiter als bis zu der Stelle, an der er seinen Wagen gerade noch sehen konnte. In einen der Seitenwege abzubiegen war ihm unmöglich. Der Wagen war seine Heimat, seine Versicherung.
    Die Faust um den Zangenarm geballt, fuhr er abrupt herum. Er stand da, den Kopf gesenkt, und horchte.
    Nur Wind.
    Die Tiere waren weg.
    Er rannte zum Auto zurück. Kaum saß er am Steuer, zog er die Tür zu und drückte die Verriegelung hinunter. Dann erst legte er den Zangenarm und das Messer auf den Beifahrersitz. Trotz der Hitze ließ er die Fenster geschlossen.
    Die A1 hatte er oft befahren. In Salzburg lebte eine Tante, und in Linz hatte er für die Firma regelmäßig neue Kollektionen begutachten müssen. Es war die Autobahn, die er am wenigsten mochte. Die A2 war ihm lieber, weil sie ihn nach Süden brachte, Richtung Meer. Und weil weniger Verkehr herrschte.
    Ohne vom Gas zu gehen, klappte er das Handschuhfach auf und begann den Inhalt auf den Beifahrersitz zu leeren. Seine Halsschmerzen hatten sich zu einer Erkältung ausgewachsen, die ihm zunehmend lästig war. Auf seiner Stirn lag ein Schweißfilm. Die Lymphknoten am Hals waren geschwollen. Die Nase war so verstopft, daß er fast nur durch den Mund atmete. Marie führte meistens Medikamente gegen kleinere Beschwerden mit. Im Handschuhfach jedoch hatte sie nichts zurückgelassen.
    Je weiter er sich von Wien entfernte, desto häufiger schaltete er das Radio ein. Wenn der Sucher durch alle Frequenzen gelaufen war, drehte er wieder ab.
    An der Raststation Großram nährten einige geparkte Autos seine Hoffnung. Er hupte. Er stieg aus, sperrte sorgsam ab. Lief zum Eingang des Restaurants. Summend öffnete sich die automatische Tür.
    »Hallo?«
    Er zögerte. Das Restaurant lag im Schatten eines Tannenwäldchens. Obwohl die Sonne strahlte, herrschte drinnen fahles Licht, als sei es kurz vor Abend.
    »Jemand da?«
    Die Tür schloß sich. Er sprang zurück, um nicht eingeklemmt zu werden, da ging sie wieder auf.
    Er holte das Messer aus dem Auto. In alle Richtungen hielt er Ausschau, ob ihm etwas auffiel. Aber es gab nichts. Es war eine gewöhnliche Raststation an der Autobahn. Mit abgestellten Autos vor dem Restaurant, mit Autos an der Tankstelle. Nur Menschen waren keine zu sehen. Und zu hören war nichts.
    Erneut klappte die automatische Tür zur Seite. Ihr Summen, tausendmal gehört, war plötzlich wie eine Nachricht an sein Unterbewußtsein. Er passierte das Drehkreuz, das den Shop und den Kassenbereich vom Restaurant trennte, und stand schon zwischen den Tischen. In der tiefen Tasche seiner Jeans hielt
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