Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht
Autoren: Thomas Glavinic
Vom Netzwerk:
hängte sich mit seinem ganzen Gewicht daran, bis ein helles Geräusch ertönte und er mit dem Stoff in der Hand zu Boden stürzte. Mit Hilfe dessen, was von der Zange übrig war, gelang es ihm, den Vorhang in einige Streifen zu reißen. Diese knüpfte er um den Türgriff sowie um das Gitter der Gepäckablage.
    Nachdem er aus den sechs Sitzen ein Bett gebaut hatte, trank er die Dose leer. Legte sich hin.
    Er war nun wieder etwas munterer. Mit offenen Augen lag er da, den Arm als Kissen unter dem Kopf. Er strich mit den Fingern über den samtenen Sitzbezug. Er ertastete ein Brandloch.
    Er mußte an die Zeit denken, als er mit Freunden im Sommer durch Europa gereist war. Auf einem fahrenden Matratzenlager wie diesem hatte er viele tausend Kilometer hinter sich gebracht. Von einem fremden Geruch zum anderen. Von einem Ereignis zum nächsten. Von einer aufregenden Stadt in eine noch verlockendere. Fünfzehn Jahre lag das zurück.
    Wo waren die Leute, mit denen er damals auf Bahnhöfen und in Parks übernachtet hatte, in diesem Augenblick?
    Wo waren die Leute, mit denen er erst vor zwei Tagen geredet hatte, in diesem Augenblick?
    Wo war er? – Im Zug. Es war unbequem. Er fuhr nicht.
    Er mochte eine halbe Stunde geschlafen haben. Aus seinem Mundwinkel war Speichel geronnen. Reflexartig wischte er ihn mit dem Ärmel vom Sitz. Er blickte zur Tür. Sein improvisiertes Schloß war unversehrt. Er machte die Augen zu und lauschte. Kein Ton hatte sich verändert. Die Alarmanlagen heulten keine Nuance anders als zuvor.
    Er schneuzte sich die Nase, die von der Erkältung und vom Staub im Abteil verstopft war. Dann ging er daran, die Vorhangstreifen von der Tür zu lösen. Es stellte sich heraus, daß er seine Sache zu gut gemacht hatte. Er nestelte an den Knoten, doch er war zu ungeduldig und hatte keine geschickten Finger. Er versuchte es mit Kraft. Die Tür bewegte sich einen Zentimeter. Dann saßen die Knoten endgültig fest.
    Es blieb ihm nichts anderes übrig, er mußte sich gewaltsam befreien. Mit dem Zangenarm zerschlug er die Scheibe in der Tür. Vorsichtig kletterte er hinaus. Er warf einen Blick ins Abteil, um sich das Bild einzuprägen, für den Fall, daß er aus irgendeinem Grund zurückkehren würde.
    Er plünderte den Supermarkt.
    Getränke und Suppendosen packte er ein, Knabbereien, Schokolade, Äpfel und Bananen. Er lud Fleisch und Wurst in den metallenen Einkaufskorb. Bald würde die Ware verdorben sein. Wann er wieder zu einem frischen Steak kommen würde, wagte er nicht abzuschätzen.
    Ehe er in sein Auto stieg, umrundete er es. Er war sich nicht sicher, ob er es genau so abgestellt hatte.
    Er blickte sich um. Er ging ein paar Schritte, kehrte zum Wagen zurück.

3
    Er erwachte in Straßenkleidung.
    Er glaubte sich zu erinnern, am Abend den Pyjama angezogen zu haben. Und selbst wenn nicht, so trug er daheim doch stets etwas Bequemes. Jedenfalls hatte er sich am Vorabend umgezogen.
    Oder nicht?
    In der Küche fand er fünf leere Bierdosen. Das Bier hatte er getrunken, daran erinnerte er sich.
    Nach dem Duschen warf er ein paar T-Shirts und Unterhosen in eine Tasche, noch ehe er sich der deprimierenden Erkundungstour zum Fenster, zum Fernseher und zum Telefon unterzog. Hunger hatte er, aber sein Appetit ließ ihn im Stich. Er beschloß, irgendwo unterwegs zu frühstücken. Er schneuzte sich, schmierte eine Salbe auf die entzündeten Stellen unter der Nase. Aufs Rasieren verzichtete er.
    Irritiert blickte er auf die Garderobe. Etwas hatte sich seit gestern verändert. Als hänge eine Jacke zuviel da. Aber das war nicht möglich. Überdies hatte er abgesperrt. Niemand war hiergewesen.
    Er stand schon auf dem Fußabstreifer vor der Tür, da drängte es ihn noch einmal zurück. Er starrte auf die Garderobenhaken. Er kam nicht darauf.
    Die Luft war klar, der Himmel geradezu unwirklich wolkenlos. Von Zeit zu Zeit lebte Wind auf. Dennoch schien im Auto das Armaturenbrett zu schmelzen. Er kurbelte alle Fenster hinunter. Mutlos drückte er einige Knöpfe am Radio. Etwas anderes als Rauschen, mal lauter, mal gedämpft, entlockte er ihm nicht.
    In der Wohnung seines Vaters fand er alles unverändert. Die Wanduhr tickte. Das Wasserglas, aus dem er getrunken hatte, stand halb gefüllt auf dem Tisch. Das Bett war zerwühlt. Als er aus dem Fenster sah, fiel sein Blick auf das Fahrrad, dessen Sattel nach wie vor mit dem Plastik bedeckt war. Die Flasche ragte aus dem Abfalleimer, die Motorräder standen an ihrem Platz.
    Er wollte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher