Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht
Autoren: Thomas Glavinic
Vom Netzwerk:
Cockpit, dann ein Fenster im Passagierbereich zu treffen. Als die Zange zum achten- oder neuntenmal scheppernd auf den Asphalt prallte, zerbrach sie in zwei Teile.
    Alle Hallen durchstöberte er, alle Lounges, alle Räume, die ihm zugänglich waren. In jenem Bereich, in dem das Gepäck verladen wurde, machte er einen Fund, der ihn elektrisierte: Dutzende Koffer und Reisetaschen.
    Gespannt öffnete er den ersten Koffer. Unterwäsche. Socken. Hemden. Badezeug.
    Weder dieser noch einer der anderen Koffer enthielt einen Hinweis, was mit seinem Besitzer geschehen war. Auch handelte es sich nicht um eine so große Anzahl an Gepäckstücken, daß er vermuten konnte, sie gehörten zu einem einzigen Flug. Wahrscheinlicher war es, daß diese Taschen und Koffer vergessen oder noch nicht abgeholt worden waren. Sie konnten von wer weiß wann stammen. Weiter halfen sie ihm nicht.
    In der Karolinengasse, vor dem Haus an der Ecke zur Mommsengasse, stieg er aus. Durch das offene Seitenfenster griff er ins Innere des Wagens und hupte. Er sah zu den Fenstern der Umgebung hoch. Keines öffnete sich, kein Vorhang wurde zur Seite geschoben, obwohl er ohne Unterlaß hupte.
    Er machte sich gar nicht die Mühe, an der Gegensprechanlage zu läuten. Die Haustür bestand zum größten Teil aus Glas, das er durch ein paar Hiebe mit einem Zangenarm erledigte. Den Kopf einziehend, stieg er durch den Türrahmen ins Haus.
    Werner wohnte im ersten Stock. Unter dem Spion klebte das Foto eines stark beladenen Yaks. Auf der Fußmatte wurde dem Besucher eine schmutzige Rolling Stones-Zunge entgegengestreckt. Er mußte daran denken, wie oft er mit einer Flasche Wein hier gestanden und die sich nähernden Schritte Werners gehört hatte.
    Er hämmerte mit der Zange gegen die Tür. Aufzubringen war sie nicht. Ihrem Schloß war allenfalls ein Brecheisen gewachsen. In den Taschen suchte er nach Papier und Stift, um eine Nachricht unter den Spion zu klemmen. Er fand nur ein gebrauchtes Taschentuch. Beim Versuch, mit dem Bleistift einige Worte an die nackte Tür zu kritzeln, brach die Mine ab.
    Als er am Südbahnhof ankam, merkte er, wie hungrig er war.
    In der Kassenhalle trottete er von Schalter zu Schalter, von Geschäft zu Geschäft. Mit dem Zangenarm schlug er die Scheiben ein. Die Alarmanlagen stellte er diesmal nicht ab. Nachdem er die Fenster der Wechselstube zertrümmert hatte, wartete er eigens, ob sich der Alarm einschaltete oder ob er sein Zerstörungswerk fortsetzen mußte. Vielleicht gab es noch jemanden, der sich um Recht und Ordnung kümmerte und einschritt, wenn Sparkassen überfallen wurden.
    Unter der ohrenbetäubenden Musik der Sirenen fuhr er mit der Rolltreppe zu den Bahnsteigen hinauf. Zunächst erforschte er den östlichen Abschnitt mit den Bahnsteigen 1-11. Dort war er selten gewesen. Er nahm sich Zeit. Dann stellte er sich auf die zweite Rolltreppe.
    Auch die Auslagen der Geschäfte vor den südlichen Bahnsteigen schlug er ein. Sie waren nicht mit Alarmanlagen ausgestattet, was ihn verwunderte. Aus dem Kiosk holte er sich eine Tüte Chips und eine Limonade, dazu ein Päckchen Taschentücher für seine laufende Nase. Im Zeitschriftenladen packte er einen Stoß Zeitungen von vor zwei Tagen.
    Ohne erst Waggon um Waggon zu durchsuchen, betrat er im Zug mit dem Bestimmungsort Zagreb das erste Abteil. Der Sitz war heiß, die Luft stickig. Mit einem Ruck zog er das Fenster herunter. Er setzte sich. Die Beine legte er auf den Sitz gegenüber, ohne die Schuhe auszuziehen.
    Während er sich wie automatisch Chips in den Mund stopfte, durchblätterte er die Zeitungen. Er fand nicht den kleinsten Hinweis, daß ein besonderes Ereignis bevorstand. Innenpolitik Querelen, Ausland Krisen, Chronik Schauriges und Banales. Auf den Fernsehseiten Serien, Talkshows, Filme, Magazine.
    Beim Lesen fielen ihm beinahe die Augen zu.
    Gedämpft drang das gleichmäßige Heulen der Alarmanlagen in den Waggon.
    Er wischte die Zeitung von seinem Schoß. Eine Minute Ruhe durfte er sich gönnen. Eine Minute mit geschlossenen Augen daliegen, die verschwimmenden Töne der Sirenen im Ohr. Eine Minute daliegen –
    Er sprang auf. Rieb sich heftig das Gesicht. An der Tür suchte er die Verriegelung, bis ihm einfiel, daß es die nur im Schlafwagen gab.
    Er trat hinaus auf den Gang.
    »Hallo? Jemand da?«
    Mit den Fingerspitzen prüfte er die Beschaffenheit des Vorhangs im Abteil. Ein schmutziges, verrauchtes Stück, das er unter anderen Umständen nicht angefaßt hätte. Er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher